Es gibt Menschen mit gebrochenem Bein oder gebrochenem Herzen. Romano hat Brüche in seiner Biografie. Geburt, Schule, Ausbildung, Beruf … – den von der Gesellschaft vorgegebenen Standard-Ablauf hat der 49-Jährige in weiten Teilen umlebt. Mehr als 30 Jahre lang war er heroinabhängig, insgesamt sieben davon saß er im Gefängnis. In manchen Zeiten fehlte ihm ein Dach über dem Kopf.
Seine Versuche, neu zu starten, scheiterten mehrfach. An der eigenen Willenskraft, letztlich aber auch am System. „Wenn man wie ich ehrlich sein will, und zugibt, dass die Lücken im Lebenslauf Knastaufenthalte waren und dass das Führungszeugnis nicht gerade sauber ist, wird es schwierig, irgendwo den Fuß in die Tür zu kriegen,“ weiß er aus eigener Erfahrung. Für ihn eine schwerwiegende Bürde, emotional wie existenziell. „Ohne Job gibt dir keiner eine Wohnung, ohne Wohnung bekommst du keinen Job. Das ist ein Teufelskreis.“
Dass es trotzdem anders laufen kann, hat Romano über die vergangenen Monate in der Lüneburger Granola-Manufaktur HEYHO gelernt. Nach seiner letzten Therapie bekam er hier im August 2019 eine neue Chance, seither geht er einem geregelten Berufsalltag nach – in Vollzeit, das heißt hier viermal pro Woche und mit einem Gehalt, dass deutlich über der Mindestlohngrenze liegt. Ein Prinzip, das Wirkung zeigt: Romano ist clean und optimistisch. „Durch die Arbeit hier fühle ich mich wieder nützlich“, sagt er. „Ich komme gerne her.“
Wenn man wie ich ehrlich sein will, und zugibt, dass die Lücken im Lebenslauf Knastaufenthalte waren und dass das Führungszeugnis nicht gerade sauber ist, wird es schwierig, irgendwo den Fuß in die Tür zu kriegen.Romano
Ein Donnerstagnachmittag
Ende Oktober
Gerade läuft bei HEYHO die Produktion für das „Frühsportfreunde“-Müsli. Über dem Firmengelände und im Gebäude an der Friedrich-Penseler-Straße am Bilmer Berg liegen Röstaromen. Sie strömen aus der Produktionshalle, in der drei Mitarbeiter gerade das faire Frühstück von morgen herstellen. Aus einem kleinen, roten Bluetooth-Lautsprecher, der mitten im Raum von der Decke baumelt, schallt laute Musik. „Heute ist es eher ruhig“, sagt HEYHO-Mitbegründer Christian Schmidt mit kräftiger Stimme. „Sonst ist hier mehr los, aber aktuell sind noch Semesterferien.“
Aus der Kurve geworfen
Unter ehemalige Drogensüchtige und Ex-Häftlinge, psychisch Erkrankte, Geflüchtete oder Menschen, die das Leben auf andere Art und Weise aus der Kurve geschleudert hat, mischen sich bei HEYHO „Normalos“, wie Schmidt sich ausdrückt. Zusammen mit zwei Freunden hatte er das Start-up-Unternehmen vor vier Jahren aus der Taufe gehoben, um genau diesen Ansatz salonfähig zu machen. Das gemeinsame, übergeordnete Ziel: Ein Business schaffen, dass Gewinnorientierung unter sozialen Aspekten möglich macht.
Während am einen Ende der Halle zwei junge Frauen Haferflocken und andere Zutaten in einer großen Schütte per Hand vermengen, um die Masse anschließend, auf Blechen verteilt, für den Röstvorgang in den Ofen zu schieben, steht Romano unter der Musik-Box an einer Waage und füllt frisch hergestelltes Granola in Gläser ab. Haarnetz und Mundschutz sitzen akkurat, die Lesebrille tief im Gesicht. Konzentriert schaut er auf die Anzeige. 260 Gramm steht da. Romano kippt nach. 308, wieder kippt er nach. Jetzt 310. „So!“, sagt er, stellt das Glas zu den vielen anderen bereits gefüllten in einen orangefarbenen Korb und nimmt sich ein neues leeres. „Der nächste, bitte!“
Wertschätzung
Mit seiner Arbeit erfüllt Romano notwendige Produktionsschritte. Dass er ein bedeutendes Glied in der gesamten Kette ist, werde ihm hier täglich vermittelt, sagt er. „Ich mische, ich röste, ich fülle ab, ich verpacke. Ich kann hier jeden Handgriff, so wie alle anderen.“ Das einzig Lästige seien die Hangtags, kleine Papier-Kärtchen, die dem Käufer später etwas über den Inhalt des Glases und über die Firmenphilosophie verraten. „Die müssen um den Deckel gelegt und verknotet werden. Dafür fehlt mir einfach die Geduld.“ Trotzdem, so Romano, sei es wichtig, auch diesen Part zu beherrschen, denn nur so könne das Team wie ein Uhrwerk funktionieren. „Außerdem kommt so auch mal Abwechslung ins Spiel.“
Jeden Tag das Gleiche zu tun, das war zu lange Romanos Grundproblem. Er fixte, dealte mit Cannabis, um die eigene Sucht finanzieren zu können und wanderte dafür dreimal ins Gefängnis. Zahlreiche Therapien halfen ihm dabei, an die Wasseroberfläche zu tauchen. Ein erster, grundlegender Etappensieg auf dem Weg in ein drogenfreies Leben. Doch ein Job? Fehlanzeige! „Das ist aber wichtig für die Bewältigung insgesamt“, so Romano, das sei ihm heute klar. „Arbeit gibt dir Struktur, einen festen Ablauf und am Ende auch finanzielle Sicherheit. Ich hatte nie die Chance, reell zu arbeiten. Ich wollte, aber man hat mich nicht gelassen“, erzählt er.
Granola-Aktivismus
HEYHO änderte das. Hier ist Romano fest und unbefristet angestellt. Etwa die Hälfte des 22-köpfigen Teams blickt wie er auf eine problematische Vergangenheit zurück – für die Chefs Stefan Buchholz, Timm Duffner und Christian Schmidt kein Grund, als Unternehmer einen Bogen um sie zu machen.
„Uns fehlt auf dem Arbeitsmarkt der menschliche Zusammenhalt,“ erklärt Schmidt. Oft, so habe er festgestellt, zähle nicht das Profil des Bewerbers, sondern die möglichst erfolgreiche Umsetzung standardisierter Erwartungen. Biografische Lücken würden immer wieder gleichgesetzt mit fehlender Willenskraft, mangelnder Disziplin und Zuverlässigkeit. Kardinaltugenden auf dem Arbeitsmarkt. „Es geht viel zu viel gutes Potential verloren, wenn man Menschen aufgrund Ihrer Vorgeschichte einfach abstempelt“, ist er sich sicher. „Wir müssen uns natürlich darauf verlassen können, dass im Produktionsablauf alle stabil sind. Aber hier geben wir einen Vertrauensvorschuss, wir sind Menschen gegenüber radikal offen.“
Höher, schneller, weiter
Das Prinzip „höher, schneller, weiter“ unter Konkurrenzdruck durchzusetzen ist für die drei Gründer nicht mehr zeitgemäß. Bezahlt wird die Produktions-Crew darum einheitlich, etwa 30 Prozent liegt das monatliche Gehalt über dem Mindestlohn – für eine Woche, die montags beginnt und schon am Donnerstag endet. „Das war uns von Anfang an wichtig“, erklärt Schmidt. „Nur so lässt sich ein menschenwürdiges Leben ermöglichen, nur so kann der oder die Einzelne Teil der Gesellschaft sein.“ Die faire Entlohnung findet der Verbraucher im Preis der Müsli-Mischungen wieder, er zahlt mit 6,99 Euro pro 310 Gramm deutlich drauf, leistet auf diese Weise aber seinen gesellschaftlichen Beitrag und unterstützt die soziale Idee des Unternehmens.
Vorbilder
Angelehnt an die „Open Hiring Policy“ der US-amerikanischen Greyston Bakery, die u. a. die Eiscréme-Produzenten Ben and Jerry‘s mit Brownies beliefert, wären Schmidt, Duffner und Buchholz mit ihrem sozialen HEYHO-Granola gerne die Blaupause für andere. „Wenn es da einen freien Job in der Produktion gibt, kann sich jeder Interessent eintragen und hat hundertprozentig die gleichen Chancen, wie jeder andere Mitbewerber, egal, wie sein Lebenslauf aussieht. Unser Ziel ist es, andere Unternehmen langfristig dazu zu inspirieren, den gleichen Weg einzuschlagen“, sagt Schmidt. „Der Gedanke aber, Menschen wie Romano vorurteilsfrei zu begegnen, gefällt vielen bislang nur in der Theorie.“
Für diesen beginnt seit der Therapie jeder Tag mit einem Besuch beim Arzt. Dort bekommt er unter Aufsicht das Mittel Polamidon verabreicht, ein Heroin-Ersatz, der ihn vor einem Rückfall bewahren und Entzugserscheinungen abfedern soll. „Mein Pola ist mein Kraftstoff, das hält mich am laufen“, sagt Romano. „Ganz ehrlich, es hilft mir auch, keinen Blödsinn zu machen. Ich weiß, dass mich das noch sehr lange begleiten wird. Bis ich eben irgendwann merke, dass es ohne funktioniert.“
Mein Pola ist mein Kraftstoff.Romano
Routinen
Von Montag bis Donnerstag geht es für ihn danach direkt in die Firma. Teambesprechung. Was liegt heute an? Welche Sorte braucht Nachschub? Wer übernimmt welche Aufgabe? Seinem Leben noch mehr Struktur verleihen. Ihm hilfts. „Ich stehe heute komplett hinter dem, was ich mache“, sagt er. „Das konnte ich noch nicht oft behaupten. Ich achte darauf, dass ich vernünftig arbeite, und auch darauf, dass andere das tun. Das vermitteln wir hier jedem, der neu anfängt. Wir wollen alle am Ende des Tages stolz darauf sein, was wir schaffen.“
Und das, so Romano, ist er. Anfangs habe ihn die feste Struktur überfordert. Acht Stunden am Tag vier mal die Woche durchzuziehen, daran habe er sich erst gewöhnen müssen. „Aber dann ziehen dich die anderen eben mit. So lange, bis es dir nicht mehr schwerfällt“, erklärt er. „Das hier hat mir Selbstvertrauen gegeben. Wenn ich nach Hause komme, weiß ich, ich habe acht Stunden meinen Mann gestanden. Und ich weiß, dass hier am nächsten Tag Leute sind, die sich freuen, dass ich wiederkomme.“
Kein Schauspiel
Inzwischen hat er sich von seiner Waage gelöst und lässt sich für diesen Artikel fotografieren. „Na Romano, hättest Du gedacht, dass Du nochmal Model wirst?“ fragt eine der Frauen, mit beiden Händen tief im Müsli versunken. Ihr Kollege folgt weiter souverän den Anweisungen des Fotografen. Sie lacht ihn an. „Nicht wirklich“, entgegnet er, schüttelt ungläubig den Kopf und muss selbst grinsen. Der Umgang im Team ist ansteckend entspannt. „Für alle ist es interessant, hier Menschen zu begegnen, deren Lebensweg sie ansonsten eher nicht geschnitten hätten“, sagt Christian Schmidt.
Romano erzählt, dass er immer genau hinhört, ein bisschen vergleicht, wie seine Jugend dagegen so verlief. Und dass ihm hier niemand etwas vormacht, wenn er selbst Geschichten auspackt. Kein falsches Interesse, kein Schauspiel. „Ich wünsche mir, dass alles so weitergeht, wie wir uns das hier vorstellen“, sagt er. „Ganz ehrlich, ich möchte hier alt werden.“ Wenn es nach ihm ginge, noch 20 Jahre. Christian Schmidt klinkt sich ein, erinnert seinen Mitarbeiter an das offizielle Rentenalter und lacht. „Bist du dir da sicher? Ich meine, wir freuen uns ja. Aber hast Du dir das gut überlegt?“
Romano: „Och, warum. Mit Mitte, Ende 60 bin ich doch wohl noch fit. Gesessen habe ich ja genug.“