Als ich aus dem Auto steige, riecht es nach frischem Heu. Schafe blöken um die Wette. Im Stall angekommen traue ich meinen Augen nicht und kann mein Glück kaum fassen, denn ich darf dabei sein, als zwei Lämmchen auf die Welt geholt werden. Es gibt Probleme, deswegen muss Malte Behr bei der Geburt Hilfestellung geben. Ein Lamm liegt falsch im Geburtskanal, die Vorderbeine müssen eigentlich vorne liegen, gefolgt vom Kopf. Der Landwirt dreht das Lamm im Leib der Mutter – und schon flutscht es heraus. „Mutter und Kinder sind wohlauf“, freut sich Behr, der die Tiere liebt. Mit der Frage nach der Intelligenz der Schafe muss man ihm gar nicht kommen. Dumme Schafe? Von wegen. „Schafe erkennen unsere Gesichter und auch unsere Emotionen“, klärt er auf.
Eigene Philosophie
Es ist Lammzeit auf dem Michaelshof in Sammatz, einem Ortsteil der Gemeinde Neu Darchau, mit dem Auto nur 45 Minuten von Lüneburg entfernt und unbedingt einen Besuch wert. Hier, im Herzen des Naturschutzgebiets Elbtalaue wirkt eine „regenerative, vielfältige und sozial bewusste Gemeinschaft“, so die eigene Philosophie. Der Hof vereint zwei Vorzüge, die für die Gemeinschaft zwar zusammengehören, allerdings in der betrieblichen Gestaltung oft getrennt betrieben werden: Auf der einen Seite die Arche-Tierhaltung, sprich alte und bodenständige Tierrassen zu halten, zu pflegen und zu vermehren, auf der anderen Seite die biologisch-dynamische Anbaumethode, die sowohl den Einsatz von Pestiziden als auch anderer chemisch hergestellter Substanzen wie auch von moderner Gentechnik ausschließt.
Malte Behr hat den Hof von Anfang an mit aufgebaut. Seit zwölf Jahren lebt der gebürtige Artlenburger, der eigentlich aus der Werbung kommt, in Sammatz und wurde hier zum Mann mit vielen Berufungen – vom Landwirt über den Architekten bis hin zum Barista.
Die Haltung alter Haustierrassen ist ein wichtiges Anliegen im Biosphärenreservat „Niedersächsische Elbtalaue“. Sie dient der Bewahrung der genetischen Vielfalt und der Erhaltung von landwirtschaftlichem Kulturgut.Dr. Franz Höchtl, stellvertretender Leiter der Biosphärenreservatsverwaltung Niedersächsische Elbtalaue
Mein telefonischer Kontakt, Fabian, ist inzwischen auch da und begrüßt uns herzlich. Fabian wollte eigentlich von Rosenheim nach Leipzig ziehen. Auf einer Zugfahrt lernte er die Freundin einer Freundin kennen, die in Sammatz geboren wurde und dem 28-Jährigen von der Mission des Dorfes vorschwärmte. Die Mission der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, miteinander etwas aufzubauen, an etwas Großes zu glauben, etwas Besonderes zu hinterlassen, beeindruckte ihn derart, dass der gelernte Bankkaufmann am nächsten Tag direkt in Sammatz anrief. Es folgte ein Besuch. Kurz darauf zog Fabian mit Sack und Pack nach Sammatz. Hier kümmert er sich, wie früher, um die Finanzen. „Aber im Gegensatz zu früher in Verbindung mit dem Herzen.“ Unsere Hofführung startet – vorbei an einem der vielen Gärten, die im Dorf angelegt sind – am „Blauen Haus“, einem Youth-Hostel. Der Schnee lässt nur erahnen, wie schön es hier im Frühjahr, geschweige denn im Sommer aussehen wird. Hier wohnen normalerweise knapp 200 Volontäre aus der ganzen Welt, die der Gemeinschaft helfen. Aufgrund der Pandemie sind aktuell nur 15 Volontäre zu Gast.
Jeder Tag ist anders
„Jeder kann sich hier in verschiedenen Bereichen ausprobieren. Viele Volontäre haben jahrelang studiert, aber wenig Praxis, die bekommen sie bei uns“, schildert Behr, „eine Philosophie von uns ist, dass, wenn jeder in dem Bereich arbeitet, in dem er Spaß hat, die Produktivität viel mehr gegeben ist.“ Die Helfer können zum Beispiel auf dem Feld mitarbeiten, in der Bauabteilung, in der hauseigenen Kräuterei, im Stall, um nur ein paar Tätigkeitsfelder zu erwähnen. Auch in der Meierei, Bäckerei oder der Käserei werden immer helfende Hände gesucht. Jeder kann sich neu erfinden oder im bewährten Beruf bleiben und seine Stärken so besser einsetzen. „Wir haben zum Beispiel einen Architekten, der als Erzieher im Kindergarten arbeitet, was nicht heißt, dass er uns nicht trotzdem mit Rat und Tat bei unseren Bauten unterstützt“, erzählen Malte und Fabian. Malte selbst ist der Inbegriff eines Allrounders. Er ist Hauptansprechpartner des landwirtschaftlichen Parts, aber auch im Bau sehr avisiert, wo er die großen Offenställe mit geplant und aufgebaut hat. Es gibt eine eigene Bauabteilung, die ständig neue Projekte angeht. Sonntags morgens findet man Malte aber auch gerne im Gartencafé, wo er Kaffee für die Gäste zubereitet. „Das ist das Schöne, die Vielfältigkeit. Jeder Tag ist anders. Man schaut, wo Hilfe gebraucht wird und packt an“, schwärmt Malte.
Lebenskraft des Bodens stärken
Eine Station weiter befindet sich das „Gelbe Haus“, das Haus der Natur. Hier finden Workshops und Seminare statt, die von verschiedenen Ausstellungen begleitet werden. Obstbaumschnitt, Bodenqualität und Landwirtschaft, aber auch Kunstworkshops wie „Naturfotografie“ sind nur einige der Kurse, an denen Gäste dort teilnehmen können. Theoretisch. 2019 sind fast alle Angebote aufgrund der Pandemie nicht zustande gekommen. Auf dem Rückweg in die Bestallungen frage ich Malte, was die biodynamische Landwirtschaft von der konventionellen unterscheidet. „Wir spritzen keine Industriechemie, keine Gifte und keine Unkrautvernichtungsmittel. Wir versuchen die Lebenskräfte des Bodens zu stärken, damit er nicht im Laufe der Zeit erodiert. Was dem Boden entnommen wird, muss ihm auch wieder zurückgegeben werden“, erklärt er. Die Menge der Tiere ist auf die Größe des Hofes angepasst, so entsteht genau die richtige Menge Dung für die Fläche.
Pferde und Esel
Zudem werden traditionelle Landbaumethoden genutzt wie das Pflügen mit Pferden. Bei den Pferden des Arche-Hofs sind wir inzwischen angekommen. Der Schwarzwälder Fuchs ist ursprünglich als leichtes Forstarbeitspferd gezüchtet worden. Die Rasse steht auf der Liste gefährdeter Haustierrassen. 2012 gab es noch 700 Zuchtstuten und 40 zugelassene Zuchthengste. In Sammatz sind die Schwarzwälder Füchse Teil der Pferdegruppe. Einige Tiere sind auch im therapeuthischen Einsatz für körperlich und geistig eingeschränkte Kinder und Jugendliche. Eins davon befindet sich im Stall gegenüber. Der Esel ist unüberhörbar, aber bestens geeignet. „Wir haben auch mal Kinder hier, die ausrasten und sich aggressiv verhalten. Der Esel ist kein Fluchttier, sondern wirkt beruhigend und bleibt im Gegensatz zu anderen Tieren stehen“, erklärt Malte.
Es ist offenkundig für immer mehr Menschen ein großartiges Ereignis, den Michaelshof in Sammatz zu besuchen. Allen Unkenrufen zum Trotz ist es ein besonderes Erleben einen Tag dort zu verbringen, wo es eben auch wundervolle alte Tierrassen zu sehen gibt. Besonders für Kinder ein wundervoller Kontakt!Klaus-Peter Dehde, Bürgermeister Neu Darchau
Einen Stall weiter grunzt es. Schon mal was vom „Angler Sattelschwein“ gehört? Früher in den 1950er-Jahren waren diese Tiere aufgrund ihrer Fetteinlagerungen richtig populär. Man nennt sie auch Wurstschweine, denn das Fleisch war und ist perfekt, um Wurstwaren herzustellen. Als der Arche-Hof vor sechs Jahren die Ställe erbaute, war der Niedergang dieser Tierrasse so weit fortgeschritten, dass es bundesweit nur noch acht Eber gab. Einer davon durfte in Sammatz einziehen. Inzwischen hat sich die Rasse wieder ganz gut erholt und kann sowohl auf der Weide als auch in den Ställen als Ferkel, Eber und Sau bestaunt werden. Eins ihrer besonderen Merkmale: Sie gelten als gute Eltern. Die Muttertiere erdrücken oder verletzten ihre Kinder fast nie, im Gegensatz zu anderen Schweinerassen.
Vielfalt in Sammatz
Natürlich gibt es auch noch Geflügel wie zum Beispiel die asiatische Laufente, die auch als Schneckenente bekannt ist. Seit einigen Jahren setzt man sie gezielt in der biodynamischen Landwirtschaft ein: Das Tier hat Nacktschnecken zum Fressen gern. Auch stark bedrohte Hühnerrassen finden sich auf dem Arche Hof, etwa der Deutsche Sperber, die Sulmtaler Hühner, die allein schon durch ihr graziles Aussehen beeindrucken, oder die Ostfriesische Möwe, die tatsächlich ein Huhn und keine Möwe ist.
Einen Abstecher zu den Ziegen muss noch sein, bevor die Hofführung nach knapp zwei Stunden endet. Die Thüringer Ziege ist eine Mischung aus einer einheimischen Thüringer Rasse gekreuzt mit einer Schweizer Toggenburger Ziege, die besonders wegen der Qualität ihrer Milch eingesetzt wird. Sie ist das Vorzeigebeispiel einer Tierart, die man traditionell in den Bergen findet. So passt sie wunderbar in die Hügellandschaft nach Sammatz. Sehr zutraulich ist diese Rasse und besonders bei den kleinen Besuchern beliebt.
Wer sich von der Qualität der Ziegenmilch und überhaupt der Qualität der Arche-Hof-Produkte überzeugen möchte, findet diese neuerdings auch auf dem Lüneburger Wochenmarkt. Noch empfehlenswerter ist allerdings ein Besuch in Sammatz, um Vladimir, Robert und all die anderen Tiere zu besuchen und die wunderschöne Natur, die Ruhe und vor allen Dingen die Gemeinschaft auf sich wirken zu lassen. Ich komme wieder, schon bald.
Der Ursprung
Der Beginn der 80er im letzten Jahrhundert: in einer Zeit der Proteste gegen Atomkraftwerke, gegen militärische Aufrüstung, überhaupt gegen Lebensformen, die nicht mehr tragbar schienen, suchte eine kleine Gruppe von Freunden nach Wegen, fruchtbare Lebensmodelle zu entwickeln, die sich als tragfähig für die Zukunft erweisen könnten. Eine Community auf dem Lande zu begründen, die ökologische Ideale mit Spiritualität und sozialem Leben zu verbinden weiß, stand lebendig vor ihren Augen. Der Michaelshof in Sammatz – in einem Endmoränengebiet nahe der Elbe im Wendland gelegen – erschien dafür nach längerem Suchen als geeigneter Ort. So begannen dort 1985 zehn junge Menschen ein ehemaliges Kinderheim mit zugehörigem Garten auf den Weg dahin zu bringen, wie es heute dem Gast in Sammatz vor Augen tritt. Nach 35 Jahren intensiver Arbeit ist eine regional und international tätige Community mit gut 250 Menschen entstanden, deren Gärten und vielgestaltige Tierwelt, deren freundliche Bewohner ebenso wie die Kinder als auch Volunteers aus aller Welt den Besucher zu begeistern und von einem Leben zu erzählen vermögen, das sich als fruchtbar für Mensch und Erde erweist. Heute zeigt sich, dass diese Arbeit im Laufe der Zeit noch viel wichtiger geworden ist, als es damals bei ihrer Begründung erschien. So trifft der Besucher 2021 auf ein Dorf.