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Perspektivwechsel

von Melanie Jepsen
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Viele Lüneburger kennen die Stadt in- und auswendig, aber sie „blind“ erfühlt und akustisch wahrgenommen haben die wenigsten. Die Studentinnen Henriette Siemens, Gillian Guerne, Louisa Hitzel und Liz Gacon möchten dazu einladen, Lüneburg aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. „Mit unserem Projekt wollen wir erreichen, dass vor allem sehende Menschen einen anderen Blick auf Sehbehinderung und Blindheit bekommen“, sagt Henriette Siemens. Bei „Blickwinkel“ ist der Name Programm. Das Projekt ist Teil des studentischen Vereins Enactus Lüneburg e. V. Dieser möchte den Lebensstandard und die Lebensqualität für benachteiligte Gruppen verbessern und ökologisch nachhaltige Projekte umsetzen.

Hemmschwellen überwinden

Wie sehen erblindete Menschen die Stadt? Welche Barrieren müssen sie überwinden? Diesen Fragen möchte das Projektteam von „Blickwinkel“ nachgehen. Blinde und sehbehinderte Menschen seien oftmals nicht vollkommen in der Gesellschaft integriert, sagt das Team. Sehende Menschen hingegen haben oft Hemmschwellen, die es zu überwinden gelte. Genau hier setzt der Gedanke von Enactus an. Die studentische Non-Profit-Initiative möchte mit den Zielgruppen reden und niemandem ein Konzept aufzwängen. Gemeinsam mit Blinden und Sehbehinderten sammelten die Studentinnen Ideen, erhielten Input. Am Ende steht eine Stadtführung, die es so bislang in Lüneburg nicht gibt. In einer kleinen Gruppe geht es durch die Straßen, die Teilnehmenden bekommen Augenbinde und Blindenstock und werden während ihrer Tour durch die Innenstadt verschiedene Aufgaben meistern. 

Scharfe Sinne

So ertasten sie Objekte oder nehmen an kleinen Verkostungen teil, um ihre Sinne zu schärfen. Es geht ums Riechen, Schmecken, bewusstes Hören. Die Tourguides selbst sind entweder blind, oder haben eine Sehschwäche. Die Teilnehmenden können mit ihnen ins Gespräch kommen, sich austauschen. Durch den offenen Dialog zwischen Sehenden und Nichtsehenden zielt das Projekt auf mehr Offenheit und Achtsamkeit in der Gesellschaft. Die Projektgruppe möchte mit ihren Stadtführungen über das Thema „Blindheit und Sehbehinderung“ aufklären, ein Bewusstsein schaffen und sensibilisieren. 

Die Welt anders erleben

Zwei verschiedene Routen sind geplant, erzählt das Team. Start ist am Rathaus. Von dort aus geht es durch den Innenstadtbereich. Eine weitere Tour führt durch die Weststadt. Jede Führung dauert eineinhalb bis zwei Stunden. Sascha Paul, Vorsitzender des Blinden- und Sehbehindertenverbands Niedersachsen (BVN), Regionalverein Nord-Ost, und Kooperationspartner des Projektes, freut sich über das neue Angebot für Lüneburg. „Wir waren von Anfang an sehr angetan von der Idee“, sagt er. Sascha Paul steht den Projektmitgliedern mit Rat und Tat zur Seite. Er wird in der Anfangsphase als Tourguide durch die Stadt führen. Neben ihm begleitet noch eine weitere Person die Gruppe während der Führung. „Wenn Menschen mit einer Sehbehinderung unterwegs sind, erleben sie die Welt halt ein bisschen anders“, weiß er. 

Jobmöglichkeiten

Die Gäste der Stadtführungen erfahren, wie sie mit dem Langstock laufen, Treppen und Bordsteine überwinden, aber auch Schallveränderungen wahrnehmen, wenn sie auf eine Wand zulaufen. Die Gruppe erspürt verschiedene Untergründe wie Kopfsteinpflaster, Regenrinnen in der Innenstadt, Unebenheiten. Langfristig möchte das Team weitere Tourguides über die Stadtführung Lüneburg ausbilden lassen. Sie ist der zweite Kooperationspartner des Projektes. Die Stadtführung übernimmt die Vermittlung der Gäste an den Tourguide. Durch ihr Projekt möchten Henriette Siemens und ihre Mitstreiterinnen zugleich auch Jobmöglichkeiten für blinde und sehbehinderte Menschen schaffen, indem diese als Tourguides bei „Erlebnis“-Stadtführungen durch Lüneburg führen. 

Ein anderer Blickwinkel

Liz Gacon und Henriette Siemens haben bereits in Hamburg an einer ähnlichen Stadtführung teilgenommen und erste Erfahrungen gesammelt. „Am Anfang war es ganz ungewohnt. Ich glaube, wir waren schon sehr ängstlich. Aber am Ende der Führung konnten wir das ganz gut ablegen“, sagt Liz Gacon. „Ich kannte die Straße eigentlich total gut. Aber aus diesem Blickwinkel die Strecke zu erfahren, war ein ganz interessantes Erlebnis.“ Viele der ihr bekannten Stationen habe sie mit Augenbinde nicht wiedererkannt. Das Projekt „Blickwinkel“ sei eine Chance für Lüneburg, sagt Sascha Paul. „Blinde und sehbehinderte Menschen machen sich dadurch etwas sichtbarer. Wir geben uns offen und bieten etwas an, die Stadt alternativ zu erleben.“ Immer wieder erfahren Sehbehinderte Ablehnung, berichtet Sascha Paul. Damit verbunden seien Ängste, sich als Sehbehinderte zu erkennen zu geben. Ergänzend zu den Stadtführungen plant das Team von „Blickwinkel“, auf dem Campus der Leuphana Universität Lüneburg „Blinde Campusführungen” anzubieten. Im Sommer, so hoffen die Studentinnen, sollen die ersten Stadtführungen durch Lüneburg starten.

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