Was die Vorsilbe „Un“ in der Bezeichnung trägt, hat es meist nicht leicht, weicht es dem allgemeinen Verständnis nach doch von der Norm ab – je nach Standpunkt des Betrachters. Da macht das Unkraut keine Ausnahme. Unansehnlich, unnahbar und unheimlich müssen seine Vertreter deswegen aber noch lange nicht sein, und das sehen auch die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft „Urbane Wildnis“ so. Gemeinsam setzen sie sich in Lüneburg für vielfältigere und naturnähere Gärten und Freiflächen ein, um der Natur auch in der Stadt mehr Raum und Möglichkeiten zur freien Entfaltung zu verschaffen. Erste Ideen wurden bereits entwickelt.
Ein lebenswertes Morgen
Lediglich fünf Engagierte umfasst der kleine lockere Zusammenschluss, eine Untergruppe des Zukunftsrats Lüneburg, der sich für die Gestaltung von Gesellschaft und Wirtschaft von heute für ein lebenswertes Morgen und Übermorgen engagiert und dabei ganz bewusst die Bürgerinnen und Bürger miteinbezieht, denn: „Die Menschen an der Entwicklung ihrer eigenen Stadt partizipieren zu lassen, ist eine großartige Idee und aus meiner Sicht sehr chancenreich“, sagt Kathrin Bahnsen, eine der AG-Beteiligten.
Veränderungen
Und hat dafür einen guten Grund. Seit vielen Jahren wohnt sie genauso wie Mitstreiter Erhard Poßin in einer innerstädtischen Eigentümergemeinschaft einer etwas größeren Wohnanlage. Seit vielen Jahren sehen sie vom Balkon aus auf eine umfangreiche Rasenfläche, die regelmäßig gemäht wird, ansonsten aber einen „trübsinnigen Blick“ bietet, wie die beiden unisono sagen. Und das soll sich ändern. Vor fünf Jahren hatten sie deshalb bereits die Idee, einen Teil des Areals ungeschoren zu lassen.
Möglichkeiten für Insekten
Erhard Poßin erklärt: „Die Erde ist sehr mager, das ist meines Wissens nach eine gute Voraussetzung für Blühwiesen, die aber natürlich nicht von jetzt auf gleich entstehen.“ Letztlich fehlte die Geduld, und das Vorhaben wurde wieder aufgegeben. Bis jetzt. Im vergangenen Herbst ist wieder Bewegung in die Angelegenheit gekommen, haben die beiden Kontakt zu jenem Gartenbaubetrieb aufgenommen, der die Anlage auch pflegt. Im Mai soll ein Teil der großen Fläche bearbeitet werden, um einen „schöneren Ausblick, aber auch bessere Möglichkeiten für Insekten zu bieten“, sagt der ehemalige Grafikdesigner.
Wildnis in der Stadt
Mit Glück können weitere Bewohnerinnen und Bewohner des vier Häuser umfassenden Komplexes für die Idee gewonnen werden. Denn eine Perspektive für die Wildnis in der Stadt ist erst dann gegeben, wenn möglichst viele sie unterstützen. Das sieht auch Tina Putensen so. Sie lebt zwar nicht in Lüneburg, setzt sich aber auch für eine weitgehend ungelenkte Naturentwicklung ein. Und das auch direkt vor der eigenen Tür: Ihr Garten ist jenes, was ihre Nachbarn als „ungepflegt“ bezeichnen, „dabei sollte zum Mainstream werden, was Klima und Biodiversität schützt“, sagt die Kirchgellerserin.

Die Menschen an der Entwicklung ihrer eigenen Stadt partizipieren zu lassen, ist eine großartige Idee und aus meiner Sicht sehr chancenreich.Kathrin Bahnsen,
Arbeitsgemeinschaft „Urbane Wildnis“
Die zum Teil steril angelegten Gärten ihrer Mitmenschen empfindet sie indes als überholt, denn sie böten vielen Arten keine Heimat mehr. „Die Leute sagen zwar, jeder solle das so machen, wie er meint“, so Tina Putensen, „das ist aber schon lange nicht mehr zeitgemäß.“ Die Insekten benötigten nicht hier und da eine Insel zwischen all den „grünen Wüsten“ und vermeintlich pflegeleichten Schottergärten, sie benötigten eine Verbindung. Und da zähle mittlerweile jedes einzelne Privatgrundstück, denn in letzter Konsequenz sei der Umwelt- nichts anderes als der Menschenschutz.
Ökologisch Kontrolle abzugeben
Das sieht Dr. Christine Katz ähnlich. Sie ist ebenfalls Mitglied der Arbeitsgemeinschaft, gleichzeitig aber auch Nachhaltigkeitswissenschaftlerin und bietet im Rahmen ihres Instituts diversu e. V. unter anderem „Wilde Stadterkundungen“ in Lüneburg an: „Es ist einfach wichtig, die Menschen mitzunehmen, ihnen den Blick für die Bedeutung von freien, zeitweilig oder ständig unverplanten ungenutzten Flächen zu öffnen. Denn dort kann der Zyklus von Entstehen und Vergehen erlebt werden. Es ist ökologisch, aber auch für uns als Gesellschaft wichtig, mal Kontrolle abzugeben, Entwicklung und Umbrüche auszuhalten.
Flächen der Stadt aufwerten
Das kann wunderbar aussehen, aber auch Angst machen. Deshalb braucht es da Information und Vermittlung“, sagt sie. Das beträfe die unterschiedlichsten Bereiche: „Unser Ziel ist es, die Vielfalt an möglichen Flächen in der Stadt aufzuwerten. Das kann beispielsweise ein privater Garten wie der Auf der Hude sein, ein Projekt, das dann neben dem Umwelt- auch noch einen sozialen Charakter erhält, weil schließlich eine ganze Gemeinschaft miteinbezogen werden muss. Oder aber ein Areal rund um ein Industrie- oder Gewerbegebäude.“
Ungestörte Entfaltung der Natur
Gleichzeitig gehe es aber auch darum, einige öffentlich zugängliche Areale in der Stadt einfach auch mal verwildern zu lassen, um das, was passiert, wenn Natur einfach mal sich ungestört entfalten darf, sichtbar zu machen. Da könnte die Stadt auch Vorreiterin sein und solche Flächen gezielt ausweisen. „Und dann haben wir natürlich auch noch die Vielzahl an gestalteten Flächen beispielsweise in Parkanlagen, die durch gezielte Bepflanzung dafür genutzt werden können, bestimmte Insektenarten anzusprechen“, sagt die Wissenschaftlerin, die sich das auch für die vielen stadteigenen Rabatten wünscht: „Wir haben da endlose, auch sehr ansprechende Blumenbeete. Auch bei diesen lässt sich noch mehr Fokus auf Naturnähe legen. Da ist noch Luft nach oben.“
Zur Nachahmung anregen
Das gilt auch für die allgemeine Aufmerksamkeit, die durch verschiedene Ansätze gezielt gefördert werden soll: So denkt die Arbeitsgemeinschaft über eine Auszeichnung von Positivbeispielen nach, um die Sichtbarkeit von wilden Vielfaltsarealen zu erhöhen und zur Nachahmung anzuregen. Entsprechend spezifischer Kriterien soll eine Jury besonders geeignete Beispiele wilder und vielfältiger Flächen, Grundstücke, Gärten auswählen und sie mit Hilfe eines von Lüneburger Künstlerinnen und Künstlern gestalteten Symbols kennzeichnen.
Kooperation mit Zukunftsstadt 2030
Eine weitere Idee ist es, Bürgerinnen und Bürger aufzufordern, innerhalb eines definierten Zeitraums ein Foto ihres „wilden grünen Lieblingsflecks“ in Lüneburg einzuschicken. Zur Unterstützung werden von der AG verschiedene Experten und Gartenfachleute angesprochen – auch zur Lüneburger Verwaltung wird der Kontakt gesucht. Erleichtert wird dies durch die enge Kooperation der AG mit dem Projekt Zukunftsstadt 2030, das tatkräftig die Aktivitäten der AG unterstützt und in seine Experimente einbindet. Und das gelte auch für das Vorhaben Auf der Hude: „Dieses könnte ein Modellprojekt werden, das demonstrieren könnte, wie ein solches Vorhaben gemeinschaftlich umgesetzt werden kann.“ Weitere Mitstreiter können sich unter melden.