Im Kollektiv werden Probleme lösbar, die alleine nicht zu bewältigen sind. Experimente, die das untermauern, gibt es zuhauf. Wer beispielshalber wissen möchte, was die Glaskaraffe voller Gummibärchen auf dem Schreibtisch des Arbeitskollegen wiegen könnte, fragt am besten so viele Leute wie möglich und nimmt dann den Mittelwert. Denn: Wo der Einzelne daneben liegt, gleicht die Gruppe Fehler meist wieder aus. Dieses
sinnvolle Phänomen, das uns das Tierreich eindrücklich demonstriert – Vögel, Insekten, Fische, sie alle formieren sich aus Instinkt im Schwarm – findet in unserem Alltag längst seine Entsprechungen. Wikipedia ist wohl das bekannteste Beispiel. Das große Online-Lexikon funktioniert nach der Idee, dass Einträge einzelner Nutzer:innen solange von allen anderen optimiert werden, bis sie makellos sind.
Schwarmintelligenz- und Kreativität
Ein ähnlicher Prozess vollzieht sich aktuell im Brauhaus Nolte: Schwarmintelligenz und -kreativität soll das seit 115 Jahren bestehende Gasthaus an der Dahlenburger Landstraße im Osten Lüneburgs auf ein nächstes Level heben. Unter dem Arbeitstitel „Nolte 2030“ beschäftigt sich eine Gruppe Architektur-Studierender der Hamburger HafenCity Universität seit Beginn des Wintersemesters 2021 damit, hier unerkanntes bzw. ungenutztes Potenzial aufzudecken, um es mit auf die Reise in die Zukunft zu nehmen. Das Ziel: die Weiterentwicklung des Nolte hin zu einem integrierten Kultur- und Gewerbekomplex, einem Ort zum Netzwerken, für Genuss und Erholung gleichermaßen. Kurz: eine innerstädtische Oase.
Baustelle gefunden – Check!
Den Lackmustest haben die Studierenden schon erfolgreich hinter sich gebracht, bemerkt Dozent Dr.-Ing. Matthias Kulcke an einem Donnerstagmorgen im vergangenen November. „Gratulation, Sie haben die Baustelle gefunden!“ Vor ihm an der Bühne im Brauhaussaal sitzen neben Familie Nolte und weiteren Mitstreiter:innen rund 30 angehende Architekt:innen über Tablets, Notebooks und ganz analog auch Notizblöcke gebeugt.
Die Neugier ist groß
Für die Frauen und Männer im 3. Semester des Studiengangs Architektur an der HafenCity Universität Hamburg ist dies ein freiwilliger Ortstermin in Lüneburg, die Noltes luden die im Rahmen der Stegreifaufgabenstellung auf das Brauhaus neugierig gewordenen ein, einmal vorbeizuschauen. Fast alle sind gekommen, die Neugier ist groß. „Ab jetzt gilt es, hier die Oasenbrille zu tragen. Was kann aus diesem Ort werden?“, will Kulcke wissen und gibt damit die Stoßrichtung vor. Um der Antwort näher zu rücken, findet an diesem Vormittag eine umfangreiche Begehung statt. Das alles braucht seine Zeit, es gibt viel zu erzählen und das Areal ist groß. Von der Vorder- bis zur Rückseite des Grundstücks sind es insgesamt 3797 Quadratmeter, die im Konzept für eine neue Sinngebung aufgegriffen werden dürfen.
Brauhaus Nolte als Uni-Stoff
Der studentische Schwarm soll Gebäude und Gelände sondieren, um gedanklich in das Projekt eintauchen zu können. Dabei herrscht gestalterische Freiheit. Die Studierenden sind angehalten, Ideen zu finden, sie zu formulieren, zu priorisieren und eigene Entscheidungen zu treffen, so, als stünden sie selbst als ArchitekturbüroInhaber:innen in der Verantwortung. „Das hier ist Ent-Schulung mit allen Hürden – aber auch den Vorteilen“, sagt Kulcke. „Sie selbst geben den Antrieb. Gehen Sie nicht davon aus, dass irgendwer für Sie Maß nimmt. Machen Sie es selbst. Oder wechseln Sie die Strategie.“ Kulckes Worte sind ein Widerhall des Semester-Startschusses von Anfang Oktober. Über zwei Semester bis Herbst 2022 ist das Brauhaus Nolte Uni-Stoff.
Die Weichen werden gestellt
Für Junior Carsten Nolte, der neben Matthias Kulcke an der Saalbühne lehnt, um die Ausgangsgegebenheiten zu erläutern, ist es ein spannender Tag. Schon lange lebt der selbständige Unternehmensberater den Spagat zwischen eigenem und elterlichem Business, schreibt einerseits Wirtschaftsanalysen und -konzepte für Firmen von New York bis Shanghai, veranstaltet als IHK-Bier-Botschafter und diplomierter Bier-Sommelier andererseits Tastings und Brauseminare, während Vater Hans-Walter und Mutter Hannelore Nolte nach wie vor das Tages- und Nachtgeschäft verantworten. Die Frage nach der Zukunft steht im Raum. Heute werden weitere Weichen gestellt.
Lieber in der 2. Reihe
„Ich habe mich hier im Betrieb von jeher lieber in der zweiten Reihe oder noch weiter hinten gesehen“, erklärt der 40-jährige Junior. Den Zapfhahn betrachte er darum weiterhin als Schalthebel seines Vaters,es bleibe nur die Frage, wie sich der bisherige Kurs mit Blick nach vorne weiter updaten lässt. „Meine Familie und ich haben da eine Vision, deren Übersetzung und Ausgestaltung offen sind. Grundsätzlich wollen wir das Nolte neu denken, es als Netzwerkknoten begreifen und wachsen sehen, seine Geschichte dabei aber im Blick behalten.“
Angebot der Noltes
Diese beginnt ebenfalls an einem Donnerstag, dem 11. Januar 1906. Da eröffnen der Zimmermeister und Bauunternehmer Karl Nolte und seine Frau Marie die „Gastwirtschaft zur Krone“ im damals noch eigenständigen Ort Hagen. An der Dahlenburger Landstraße hatte er den geeigneten Platz für seine Zimmerei gefunden, um die Dachstühle der Häuser, die er in Lüneburg baute, zu fertigen. Auch Fremdenzimmer und ein Pferdeausspann – eine Vorversion des Park and Ride-Systems in die Lüneburger Innenstadt – gehören damals zum Angebot der Noltes.
Den ersten personellen Wechsel gibt es 1951, als Sohn Johannes Nolte und seine Frau Mary übernehmen. Hannelore und Hans-Walter Nolte führen die Gastwirtschaft seit 1984 in dritter Generation.
Handwerkliche Bier-Produktion
1993 verwirklicht Hans-Walter seinen Traum der eigenen Mikrobrauerei und der handwerklichen Bier-Produktion. Gegen Ende der Nullerjahre im neuen Jahrtausend treibt Sohn Carsten aus dem Off Schritt für Schritt ergänzende Modernisierungsmaßnahmen voran und holt das Geschäft mit kulinarischen und kulturellen Veränderungen ins Hier und Jetzt. Bio-Zertifizierung, Slow Food, Brauseminare- und -feste, Konzerte mit Namen wie Andreas Dorau, Jacques Palminger oder Rod González – das alles ist inzwischen Teil der Nolte-DNA.
Über Jahrzehnte weiterentwickelt
„Als meine Eltern und Großeltern hier aktiv waren, ist Gastronomie noch anders abgelaufen“, erzählt Vater Hans-Walter, der,ganz Gastwirt, von der Theke aus spricht. Da sei es in erster Linie um ein geselliges Miteinander gegangen. Speisen hätten zu Beginn keine Rolle gespielt, das Interesse daran sei erst später gewachsen. „Aber wir sind nie stehengeblieben, das Haus hat sich über die Jahrzehnte immer weiter entwickelt“, so Nolte Senior weiter. „Trotzdem machen die alten Geschichten, die unsere Mauern erzählen, einen wesentlichen Teil des Charakters aus. Die können in Zukunft gerne weitererzählt werden. Vielleicht aber unter einem Ansatz, der die Geselligkeit noch stärker in den Mittelpunkt rückt.“
Lust am Wandel
Lust am Wandel ist auf jeden Fall da, sagt er. Der Schwarm macht sich Notizen. Sohn Carsten zeigt mit einem Nicken Zustimmung und wirft einen kurzen Blick auf sein Mobiltelefon. Was folgt, ist die Feststellung, dass 9:57 Uhr „die passende Zeit für ein Frühstücksbier“ sei. Wer will, darf jetzt erst einmal das „Bio-Helle“ verkosten. Bis auf sechs Personen wollen alle. Gemeinsam mit Mutter Hannelore trägt er wenige Minuten später Liter um Liter auf die Fläche. Eine kleine theoretische Einführung in die Kunst des Brauwesens gibt es als Bonus dazu, ebenso die eine oder andere Anekdote aus dem Gastro-Alltag. Spätestens jetzt sickert damit bei allen Anwesenden durch, dass Nolte auch Authentizität bedeutet – ein Detail, das für spätere Entwürfe nicht unwichtig ist. Im Plenum wird wieder fleißig mitgeschrieben.

Kooperationen weiter ausbauen
Als Mitstreiter ist auch Peter Eichelmann im Saal. Sein mobiles Karacho Kaffee-Team ist in Lüneburg bekannt, das schwarze Dreirad vom Wochenmarkt, die Kaffee-Gondel vom Uni-Campus. Bereits seit 2015 hat er auf dem Hinterhof des Brauhauses eine Garage angemietet, röstet dort seine Bohnen in kleinen Chargen von Hand. Heute soll er den Studierenden Inspiration geben, nämlich bei der Frage, in welche Richtung der Netzwerk-Ansatz gehen kann. „Carsten und ich denken schon seit vielen Jahren darüber nach, wie sich Kooperationen weiter ausbauen lassen“, berichtet Eichelmann.
Das Nolte als Ausflugsziel für Familien
„Hier ist alles über einen sehr langen Zeitraum gewachsen und alles hat seinen Wert. Aber ein Blick von Außen gibt sicherlich wertvolle neue Impulse und ich bin gerne Teil Ihrer Ideen für das Nolte 2030“, so der Kleinunternehmer zu den Studierenden. Er selbst sehe an diesem Ort vor dem inneren Auge u. a. einen Kinderspielplatz, insgesamt vielleicht ein Ausflugsziel, das Familien bewusst ansteuern, um hier Zeit zu verbringen. „Gerade Corona zeigt, wie sehr vor allem Eltern nach solchen Orten lechzen.“
Eine innerstädtische Oase
Und auch für den Stadtteil könne das eine Aufwertung mit sich bringen. Eine Hoffnung, die die Noltes teilen. „Je weiter man sich aus der City ins Äußere begibt, verliert die Stadt Meter für Meter an Charme“, so der Junior. Gehe es nach ihm, dürfe sich das Projekt auf lange Sicht auch auf diesen Punkt auswirken. „Wenn wir es schaffen, hier eine innerstädtische Oase zu etablieren, die auch positiv auf den Stadtteil als solchen ausstrahlt, dann kommen wir unserer Vision, mit der die Steigerung der Lebensqualität einhergeht, ein ganzes Stück näher.“
Eine Führung für die Studierenden
Während der anschließenden Begehung können die Studierenden alles auf sich wirken lassen. Hans-Walter und Carsten Nolte führen sie an den großen Edelstahl-Braukesseln vorbei in die Gaststube, in den Clubraum, über die Kegelbahn, in das noch relativ junge Bierlabor, den Biergarten und schließlich zu den Nebengebäuden samt Kaffeerösterei. Eine erste Herausforderung des Seminars wird es sein, die heute gesammelten Notizen und Eindrücke in einen Kurzentwurf, den Stegreif, einfließen zu lassen. Dieser soll einen neuen Entwurf der Fassade des Brauhauses und der Hofeinfahrt zeigen. Zwei Wochen haben die Studierenden dafür Zeit.
Fragen aus dem Schwarm
Am Ende hagelt es Fragen aus dem Schwarm: beispielsweise nach der Dahlenburger Landstraße und ihrem Verkehrsaufkommen, der Parkplatzsituation, nach der generellen Bereitschaft, Mauern einzureißen und innere Grenzen zu überwinden. Und auch die Redakteurin hat noch eine abschließende Frage – wie das ganze Projekt zwischen Kulcke und den Noltes denn nun eigentlich zustande gekommen ist, will sie wissen. Man tauscht verwunderte Blicke aus. Die Antwort: bei einem Bier natürlich.
Hinweis: Im Januar 2022 folgt die Präsentation der Stegreife für die Öffentlichkeit im Brauhaus Nolte. Ob live vor Ort oder digital, darüber entscheidet Corona. Fortsetzung folgt