Es ist eine Eigenart der Wissenschaft, Prozesse, die eigentlich völlig natürlich sind, durch besondere Begrifflichkeiten auf eine neue Bedeutungsebene zu heben. Das freie Spiel ist so ein Thema. War es im Kindergarten früher die Regel, die keiner besonderen Bezeichnung bedurfte, ist es heute ein fast spezielles Angebot und wird auch so gekennzeichnet. Nicht alle aber können das befürworten.
Bedürfnisse erkennen
„Gerade das freie Spiel, also das, was die Kinder machen, wenn sie sich selbst in einem bestimmten Rahmen überlassen sind, ist für den Nachwuchs und dessen Entwicklung von größter Bedeutung“, erklärt Petra Moritz, Leiterin der Krippe „Sonnenkäfer“ in Neetze, „lernen sie doch besonders dort, ihre Bedürfnisse zu erkennen.“ Möchte ich heute lieber toben oder etwas Ruhiges machen, möchte ich mich intensiv mit einer Sache auseinandersetzen oder mich doch besser anderen zuwenden? „Die Fähigkeit, zu spüren, was mir hier und heute guttut, kann ich nicht entwickeln, wenn mir immer ein Angebot gemacht, immer eine Aktivität aufgedrängt wird. Es ist eine Kompetenz, die ich für mich erwerben muss. Und das geht am besten selbstbestimmt.“
Umfangreiches Angebot
Selbstbestimmung – das ist ein psychologisches Grundbedürfnis, das durch Überorganisation und Kontrollwahn heute fast komplett verloren geht. Und daran sind verschiedene Faktoren beteiligt: „Zum einen gibt es natürlich die Eltern, die getrieben von dem Wunsch, das eigene Kind möchte es besser haben als sie selbst, viel Zeit mit ihm verbringen wollen, es dabei in seiner kreativen Entfaltung mitunter aber zu sehr beschneiden“, sagt die 60-Jährige: Schwimmen, Delfi oder Yoga, Mawiba, Pekip oder Fabel – das Angebot für gemeinsame Erlebnisse ist dabei so umfang- wie einfallsreich. „Zum anderen gibt es aber auch vom Kultusministerium Vorgaben, die besonders für die Arbeit in den Kitas gelten, und auch die schränken den Spielraum ein.“ Im wahrsten Sinne des Wortes.
Kognitive Fähigkeiten erlernen Kinder alleine
Das beträfe besonders den Elementarbereich: „Dort ist der Leistungsdruck der Gesellschaft doch noch wesentlich höher“, sagt die erfahrene Erzieherin. „Täglich wollen Mütter und Väter von ihrem Nachwuchs erfahren, was dieser in der Einrichtung gemacht hat. Was er gelernt hat.“ Da gebe es am Tag mitunter nur eine halbe Stunde ungeplante Zeit – Zeit, in der sich die Kinder ohne Anleitung beschäftigen können. Viel zu wenig, wie Petra Moritz meint: „Denn kognitive Fähigkeiten entwickeln sie doch von ganz allein.“
Erzieher in der Rolle der Beobachter
Wenn sich die Erzieherinnen zurücknähmen, sich mehr in die Rolle der Beobachter begäben, würden die Kinder die vielfältigsten Lernprozesse durchlaufen: „So wählen sie sich vielleicht einen Spielpartner aus und müssen sich dann mit seinen Eigenarten und Wünschen auseinandersetzen“, erklärt Petra Moritz, „das schult das Rollenspiel und natürlich die Sozialkompetenz.“ Das eigene Ego müsse zurückgenommen, die Meinung des anderen akzeptiert werden – eine wichtige Interaktion entstünde. Auch schon bei den ganz Kleinen.
Eigene Erfahrungen bleiben hängen
„Wenn zwei Kinder mit einem Ball spielen, den ein anderes Kind auch gerne hätte, kann es zu Streit kommen. Finden die Partner aber Alternativen, die sie einander anbieten können oder Optionen zum Tauschen, lernen sie, mit der Situation umzugehen.“ Und diese Erfahrungen blieben hängen. Viel mehr als alles, was nach festem Plan passiere.
Und das beträfe gleichermaßen die allgemeinbildenden Kompetenzen: Sitze die Gruppe beispielsweise am Frühstückstisch, werde jedes Kind gefragt, welche Tasse es denn heute haben möchte.
„Es muss also nicht nur eine Entscheidung treffen, sondern erfährt parallel einen Ausschnitt der Farbenlehre“, sagt Petra Moritz. Singe die Gruppe ein Lied, werde der Beginn von den Erzieherinnen angezählt: „Und das unterstützt die Zahlenlehre.“ Spielten die Kinder mit Sand, würden sie erfahren, dass er sich im pulvrigen Zustand besser sieben lasse, nasser aber ideal zum Formen sei. Und dadurch gewännen sie schon erste Erkenntnisse im Bereich der Naturwissenschaften.
Kleine Experimente
Die ließen sich auch durch kleine Experimente fördern: „Als es schneite, hatten wir einen Haufen Schnee in den Gruppenraum geholt und die Kinder damit sich selbst überlassen.“ So erkannten schon die Kleinsten, dass der weiße Niederschlag kalt ist, wenn man ihn berührt, sich zudem in Wasser auflöst, wenn er eine Weile in der Wärme liegt – ein erster Einblick in die Welt der Aggregatzustände.
Enorme Lernprozesse und große Leistungen
„Und auch die Sprache begreifen sie ganz nebenbei“, sagt die siebenfache Mutter. „Wenn wir sie beispielsweise wickeln, sprechen wir sie an, in vollen Sätzen.“ Da müssten keine Vokale geübt, keine Fördermaterialien herangezogen werden. Ebenso wie bei den Grundlagen der Mathematik: Die ergäben sich doch schon im Spiel mit den Klötzen, mit ihren Formen, ihren Varianten. Und auch die ganz banalen Alltagskompetenzen erfahre der Nachwuchs ganz nebenbei: „So lernen sie beispielsweise, sich die Socken anzuziehen. Dazu haben wir hier Zeit, und die investieren wir.“
Grundsätzlich, und das ist der Krippenleiterin wichtig, müsste Eltern aber deutlich werden, dass ihre Kinder schon einen enormen Lernprozess durchschritten, indem sie sich von ihnen lösten, um in die Einrichtung zu kommen. „Sie bleiben mitunter bis zu acht Stunden hier, das ist wie der Arbeitstag eines Erwachsenen. Eine große Leistung.“