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Der Bauch Lüneburgs

von Gastautor
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Einheimische nennen ihn zuweilen eine „Rennbahn“. Denn obwohl der Platz „Am Sande“ eine verkehrsberuhigte Zone ist, herrscht reger Betrieb: Busse, Taxen und Lieferwagen fahren ständig ein und aus. Das sorgt für Diskussionen: Sollte man durch eine Fußgängerzone nicht doch mehr Möglichkeiten zum Verweilen schaffen? Sollten nur noch geräuschärmere und umweltfreundlichere E-Fahrzeuge zu den Geschäftsbereichen und den Haltestellen gelangen dürfen? Sollte nicht viel mehr Bepflanzung her? 

Mobilität ist Teilhabe

Auch Klaus Niclas, seit 2006 Gästeführer in Lüneburg, sieht sich mit der Mobilität „Am Sande“ immer wieder konfrontiert. „So ein schöner Ort, aber so viele Autos und so wenig Grün“, seufzten die Touristen oft am Endpunkt seines 90-minütigen Rundgangs durch die Stadt. „Das ist natürlich eine Sicht von Menschen, die nicht hier wohnen“, sagt Niclas. Denn „Am Sande“ sei noch immer ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt für die Lüneburger. „Mobilität ist Teilhabe. Und genau darum geht es“, meint der 60-Jährige. Der Vorsitzende des Vereins „Lüneburger Stadtführer e. V.“ weist darauf hin, dass alle Buslinien über den Platz führen: „So kommt man bequem etwa vom Budni bis zum Bahnhof.“ 

Zähle man den Taxiverkehr mit hinzu, könnten auch alle Senioren und beispielsweise Gehbehinderte direkt im Zentrum aussteigen, dort, wo sie Geselligkeit, Einkaufserlebnisse und Kultur erführen. Niclas: „Sicherlich nutzen die meisten Bürger den Sande eher dazu, um anderswo hin zu gelangen.“ Aber auch da gehe es um Teilhabe: „Der Platz liegt sehr zentral. Man erreicht schnell Sehenswürdigkeiten, Geschäfte und gastronomische Angebote.“ Das mache „Am Sande“ vielleicht nicht zum Herzen, aber zum Bauch Lüneburgs.

 

Foto: nh/A
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Meter lang ist der Platz Am Sande

Gründungsfundamente

Und irgendwie war das schon immer so. Auch damals, als Lüneburg aus drei Siedlungspunkten entsteht. Der Kalkberg mit der „Lüneburg“, das Dorf „Modestorpe“, das zunächst über eine Furt, später über eine Brücke über die Ilmenau zu erreichen ist, sowie die Salzquelle sind „Mons, Pons, Fons“ (aus der damaligen lateinischen Amtssprache übersetzt „Berg“, „Brücke“, „Quelle“). Jene Gründungsfundamente, die sich Lüneburger Pennäler auch heutzutage merken müssen, wenn es um Heimatgeschichte geht. Denn erst ein Zusammenspiel der drei Komponenten ermöglicht letztendlich die Stadtgründung.

Y als Urgebilde Lüneburgs

„Stellen sie sich ein Y vor“, veranschaulicht Niclas, „der Sande ist der Unterstrich, der Fuß die Ilmenau. Über die Heiligengeiststraße erreichen Sie vom Sande aus die Salzfabrik, über die Grapengießerstraße den Kalkberg. Das sind sozusagen die beiden Arme des Y, auch ‚west-östliche Ausdehnung‘ genannt.“  Und vorbei an der Johanneskirche gehe es zur Brücke, Richtung „Fuß des Buchstabens“. Dieses Y stelle man sich als Urgebilde Lüneburgs vor.

Johanneskirche als schlichte Holzkirche

Vermutlich schon zu Zeiten Karls des Großen (um 800) siedelten sich an der Furt Handwerker an. „So genau weiß man das nicht“, sagt Ulfert Tschirner, Kurator für die kulturgeschichtliche Sammlung im Museum Lüneburg, „aber geschichtliche Quellen deuten darauf hin.“ Erste Herbergen entstanden und die Kirche, aus der später die Johanneskirche werden sollte, wurde als schlichte Holzkirche errichtet. Man gewann Salz, das dann auch für den Ostseeraum bestimmt war, und transportierte es auf dem Wasserweg über die Ilmenau. 

Bald schon entstand ein kleiner Hafen. Wann genau, ist unbekannt. Dahin musste das „weiße Gold“ jedenfalls mit Ochsenkarren gezogen werden. Natürlich über den Sande. Erstmals erwähnt wurde der Platz im Jahre 1229 als „in harena“ (aus der damaligen lateinischen Amtssprache übersetzt zu „im Sand“). Der Name resultierte aus dem unbefestigten Untergrund. 1389 wird daraus „Upp dem Sande“, im 16. Jahrhundert „Op dat Sant“. 

Platz zum Stapeln und Handeln

1392 sichert sich Lüneburg das Stapelrecht. Händler, die sogar aus München und Prag mit ihren Pferdekarren anreisen, werden gezwungen, in Lüneburg halt zu machen und drei Tage lang ihre Waren zu offerieren. Wo? Natürlich „Up dat Sant“. Denn nur hier kann der Boden täglich die bis zu 100 Fuhrwerke  – doppelachsig und tonnenschwer – aushalten, nur hier gibt es genügend Platz zum Stapeln und Handeln. Und zwei Brunnen mit Wasser dienen unter anderem für die Versorgung der durstigen Pferde. 

Eine Warendrehscheibe entsteht. Hinzu kommt, dass der Salinentransport durch die Eröffnung des Stecknitzkanals ab 1398 zwischen den Hansestädten Lübeck und Lüneburg vollständig auf dem Wasserweg erfolgen kann. Das spart Zeit. Denn Fuhrwerke bewältigen nur bis zu 20 Kilometer am Stück, bevor sie Tier und Mensch überfordern. 

Foto: nh/A

Mobilität ist Teilhabe. Und genau darum geht es.
Klaus Niclas
Gästeführer in Lüneburg

Foto: nh/A

Entstehung von Herbergen und Schankwirtschaften

„Was der Hafen für die Boote ist, ist der Sande für die Fuhrwerke“, beschreibt Klaus Niclas. „Hier kriegst du Rohstoffe, hier kriegst du Waren zum Weiterverarbeiten. Und hier fahren die mit Salz vollbeladenen Karren in Richtung Hafen weiter.“ Herbergen und Schankwirtschaften entstehen. „Wenn Sie einen Fuhrmann wegen des Stapelrechts so lange aufhalten, dann müssen Sie ihn auch versorgen“, erklärt der Gästeführer. 

Der belebte Platz zieht aber auch Gaukler, Prediger und Wandergesellen an, die hier ebenfalls eine Unterkunft finden. Es gibt historische Belege dafür, dass „Am Sande“ ab 1421 Bier gebraut und ab 1570 Korn gebrannt wird. Auf Urkunden sind auch Fischhandel und der Handel mit Bauholz dokumentiert. Der rege Austausch unter Handeltreibenden schafft außerdem wichtige Netzwerke. Recht viel Trubel also.

Wohnen im Macht- und Wirtschaftszentrum

Anders als heute zieht dieser Trubel reiche Leute wie die Sülfmeister an, die Besitzer von Siedepfannen zur Salzgewinnung in der Saline. „Die wollten mitten in Macht- und Wirtschaftszentren wohnen und bauten daher auch ‚Am Sande‘ ihre Häuser“, weiß Niclas. Vieles, so der gebürtige Scheeßeler, spräche dafür, dass der Platz damals schon in seiner 225 Meter langen und zwischen 30 und 40 Meter breiten Ausdehnung vorhanden gewesen sei. „Fest steht, dass im 16. Jahrhundert die vermutlich ältesten Wege Lüneburgs – die Heiligengeiststraße und Grapengießerstraße – damals wie heute in der gleichen Weise vom Sande weg- beziehungsweise hinführten.“ Bepflastert worden ist, so Ulfert Tschirner, „Am Sande“ aber erst im Jahr 1484.

Finanziell ausgeblutet

Nach dem Dreißigjährigen (1618–1648) verliert das Salz und damit auch Lüneburg an Bedeutung. „Die Stadt ist durch den Krieg zwar nicht zerstört, aber finanziell ausgeblutet“, beschreibt Niclas. Die Lüneburger verlieren ihren Reichtum und können sich fortan auch nicht mehr jeder Baumode hingeben. Spuren davon sind heute noch zu sehen: „Die Bürger bleiben in ihren Renaissance-Häusern, der Neubau eines Barock-Hauses ist aus wirtschaftlichen Gründen unmöglich. Einzig die Fassaden der Gebäude werden angepasst, auch dem jeweiligen Geschmack späterer Epochen“, erklärt Niclas. 

So sehe man neben dem klassischen hanseatischen Stufengiebel etwa eine Schnecken-Barockfassade und einen klassizistischen Giebel, hinter denen sich aber Renaissance-Häuser verbergen. „Immerhin behält Lüneburg sein Stapelrecht“, sagt der Gästeführer. So könne die Stadt wenigstens weiterhin vom Warenumschlag leben und „Am Sand“ behalte seine wichtige Bedeutung.

Teil des Fortschritts sein

Das geht bis ins 19. Jahrhundert hinein. Dann wird die Eisenbahn erfunden. Einen Anschluss erhalten nur Städte, die ihr Stapelrecht opfern, denn Zollschranken machen im Zeichen des technischen Fortschrittes keinen Sinn mehr. Lüneburg lässt sich auf den Tausch ein. 1847 fährt die erste Eisenbahn in die Hansestadt. Das Warendrehkreuz verlagert sich in das nahe Umland. Reiche bauen ihre Häuser nun in Nähe des Bahnhofes oder der Gleise. „Man stelle sich vor, Wohlhabende hätten in der Neuzeit an der A 39 gebaut, nur um zu dokumentieren, dass sie Teil des Fortschritts sind“, vergleicht Niclas, um den riesigen Kulturunterschied von gestern und heute aufzuzeigen. 

Der Sande verliert an Bedeutung für den Warenumschlag, besticht jetzt aber durch angesagte Hotels („Wellenkamp“, „Deutsches Haus“), Schänken und Cafés. Er wird zum Treffpunkt. Hinsichtlich der Mobilität scheint jedoch eine ruhigere Phase eingeläutet. Niclas: „Die Fotos vom Anfang des 20. Jahrhunderts zeigen den Platz überwiegend leer – hier mal ein Leiterwagen, da mal eine Karre. Ob der Fotograf die Momente abgepasst hat, um den Platz besser zu dokumentieren, oder ob schlichtweg nicht mehr so viel los war, lässt sich nicht mehr nachvollziehen.“

Verkehrsinseln und Verkehrsbeschilderung

Verkehrsreich wird es mit Einführung des Automobils. Bis 1900 sind beide Brunnen „Am Sande“ abgebaut und werden durch den Reichenbachbrunnen vor der heutigen Industrie- und Handelskammer (IHK) ersetzt. 1907 und 1908 entstehen die ersten Fahrspuren. Zwei eingerichtete Verkehrsinseln deuten bereits an, wohin sich die Mobilität in den darauffolgenden Jahrzehnten entwickelt. Doch noch werden Zierbäume auf diesen Verkehrsinseln gepflanzt. 

Dafür hat der Dichter Hermann Löns allerdings nur Hohn und Spott übrig: „Ringel, Ringel Rosendorn, den pflanzen wir am Sand, wir pflanzen dort Akazien an, Ki-ka-kazien an, man lacht uns aus im Land“, reimt er im „Lüneburger Kinderlied“. Es dauert nicht lange, da werden die Bäume als „Verkehrshindernis“ angesehen. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg sind sie wieder verschwunden. Die Verkehrsinseln hingegen bleiben und werden zu Parkinseln. 1930 ist das Fahrzeugaufkommen bereits so groß, dass „Am Sande“ eine Verkehrsbeschilderung benötigt.

Foto: nh/tonwert21.de

Sicherlich nutzen die meisten Bürger den Sande eher dazu, um anderswo hin zu gelangen.
Klaus Niclas
Gästeführer in Lüneburg

Foto: nh/tonwert21.de

Denkmal von Johannes Reichbach wird versetzt

Glimpflich kommt Lüneburg im Zweiten Weltkrieg davon. Niclas: „Die Zerstörungen konzentrieren sich hauptsächlich am und um den Bahnhof. Der Innenstadtbereich hingegen bleibt unversehrt.“ „Am Sande“ wird vor der IHK, die seit 1942 dort angesiedelt ist, das Denkmal von Johannes Reichenbach zum heutigen Reichenbachplatz versetzt, um einen Löschwasserbrunnen anzulegen. „Unter dem Sande wurde während des Zweiten Weltkrieges auch ein gewaltiger Bunker angelegt, dessen Umfang erst bei Arbeiten im Jahr 2000 so richtig erkannt worden ist“, sagt Ulfert Tschirner vom Museum Lüneburg.

Gebäude unter Denkmalschutz

Da aber die Innenstadt durch die Kriege nie in Mitleidenschaft gezogen wurde, findet man heute „Am Sande“ sehr alte Gebäude. So war in der Bäckerei Hesse bereits seit 1493 eine Backstube ansässig und der erste aufgebaute Staffelgiebel von 1410 ist immer noch über einem Computergeschäft zu bestaunen. Insgesamt stehen 51 der insgesamt 54 Gebäude unter Denkmalschutz.

4-spurig am Sande

Hoch wird das Verkehrsaufkommen erst wieder in den Wirtschaftswunderjahren. Und alle, die sich heute über die vielen Autos echauffieren, sollten sich im Internet einmal Videos aus den 60er- und 70er-Jahren anschauen: Jeder einzelne fuhr mit seinem Pkw direkt vor das Geschäft, in dem er einkaufen wollte. „Die Parkinsel, die sich über den ganzen Platz erstreckte, füllte sich täglich komplett“, sagt Niclas. Um die Parkinsel herum verteilte sich der Fahrzeugverkehr auf vier (!) Spuren: Zwei in Richtung Johanneskirche, zwei in die Gegenrichtung. 

Und Vorrang hatten bis Anfang der 70er-Jahre nicht etwa Fußgänger oder Radfahrer. „Die hatten möglichst zur Seite zu springen“, bestätigt der Gästeführer. „Ich sah erst neulich einen alten Verkehrsaufklärungsfilm, der an die Fußgänger appellierte, doch nicht immer so rücksichtslos zu sein und einzeln über den Zebrastreifen zu gehen – dadurch werde der Verkehrsfluss doch gefährdet!“ 

Einführung der Verkehrsberuhigung

Erst Ende der 1970er-Jahre findet ein Umdenken statt. Eine Verkehrsberuhigung in der Innenstadt wird langsam eingeführt, ein Netz der Öffentlichen Verkehrsmittel aufgebaut. Doch die Parkinseln, auf denen sich auch gelbe Telefonzellen befinden, halten sich bis in die 90er-Jahre hinein. Parkplätze werden aber mehr und mehr Taxen und Fahrrädern vorbehalten, der Busverkehr wird verstärkt, weiterer Parkraum muss für Blumenkübel und Poller weichen.

So verändert sich „Am Sande“ langsam zu dem Platz, den wir heute kennen: ein Veranstaltungsort für Feste wie die Sülfmeister- und Hansetage, ein Aufenthaltsort mit viel Historie und Außengastronomie, eine Shopping-Meile, ein Verkehrsknotenpunkt vor allem für den Busverkehr. Der Bauch Lüneburgs halt.

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