Eine ältere Dame reist nach Amrum. Sie möchte unbedingt noch einmal auf die Insel. Dorthin, wo sie einst die schönsten Urlaubstage mit ihrem verstorbenen Mann verbrachte. „Lass uns umkehren“, sagt ihr Begleiter, „es regnet, es stürmt. Wir werden keine gute Zeit haben.“ Doch die Seniorin insistiert. „Fahr weiter“, sagt sie, „das wird schon.“ Kaum ist der Strand in Sicht, bricht der Himmel auf. Die Sonne strahlt. Die Frau sitzt im Kniepsand, blickt aufs Meer, ist glücklich.
Klingt so der Anfang eines rührseligen Romans? Nein. Das ist Realität. Wolfgang Steffen hat es erlebt. Denn er ist der Begleiter in dieser wahren Geschichte. Ein ganz besonderer Begleiter: ein Sterbebegleiter.
Höhen und Tiefen
Seit acht Jahren arbeitet der 57-Jährige ehrenamtlich beim Ambulanten Hospizdienst Lüneburg e.V. Fast 20 todkranke Menschen hat er seitdem begleitet, alle Höhen und Tiefen mitgemacht, die es nur geben kann, wenn ein Leben mit all seinen Facetten auf das Ende, das große Unbekannte zusteuert. „Und manchmal haben die Menschen trotz anderslautender Prognose auch überlebt. Diese Wunder gibt es wirklich“, sagt Steffen. Die Jüngste, die er begleitet hat, war in ihren 30ern. Die Älteste wird über 100 Jahre alt sein. Steffen besucht sie derzeit regelmäßig in einer Pflegeeinrichtung.
Zweitgrößte Hospizdienst
Der Ambulante Hospizdienst existiert seit 1994. Den Impuls für den damaligen „Freundeskreis Hospiz“ gaben zwei „Grüne Damen“ aus dem Klinikum. Der Verein startete mit einer Handvoll Engagierten. Heute hat er 480 Mitglieder. 83 davon sind aktiv als Ehrenamtliche tätig, 49 im Einsatz für die Sterbebegleitung. Auch in der Corona-Zeit. „Wir sind in Niedersachsen der zweitgrößte Hospizdienst“, sagt Heike Jost, die für die Trauer-Koordination zuständig ist und gemeinsam mit Claudia Arend den Vorbereitungskurs für die Sterbebegleiter organisiert. „Nur der Hospizdienst in Oldenburg ist noch größer“, ergänzt Arend, neben Sonja Hoth eine der zwei hauptamtlichen Koordinatorinnen.
Mitgefühl, aber kein Mitleid
„Es gibt mir ein gutes Gefühl, Teil eines so starken Teams zu sein“, sagt Steffen. Ohne die Hilfe, auf die er durch den Verein stets zurückgreifen könne, würde er sein Ehrenamt nicht wuppen. „Dann wäre ich mit der todkranken Seniorin sicher auch nicht nach Amrum gefahren“, sagt er. Das sei bisher seine intensivste Begegnung in seinem Ehrenamt gewesen. „Ich hatte sie schon drei Monate lang begleitet, als sie den Wunsch äußerte, noch einmal die Insel zu sehen.“ Er habe sich dann an den Verein gewandt, Handynummern vom Haus- und Palliativarzt mit an die Hand bekommen. „Auch mitten in der Nacht im Ferienhaus erhielt ich Hilfe“, sagt er. Natürlich äußerten sich die Symptome der Krankheit auch während der Reise. Schmerzen, Erbrechen – auf alles habe man gefasst sein müssen. Doch damit habe er umgehen können: „Ich habe Mitgefühl, aber kein Mitleid.“

„Es gibt mir ein gutes Gefühl, Teil eines so starken Teams zu sein.Wolfgang Steffen
Sterbebegleiter
Vorbereitungskurs notwendig
Steffen gibt zu, dass er den kleinen, aber feinen Unterschied erst lernen musste. Dazu dient der achtmonatige Vorbereitungskurs des Ambulanten Hospizdienstes. Er beginnt einmal im Jahr, meistens im März, mit einem Einführungswochenende und setzt sich dann mit einem Grund- und Vertiefungskurs fort. Alle 14 Tage mittwochs lernen die Interessierten rechtliche sowie pädagogische Grundlagen und vor allem Selbstreflektion. Dann folgt ein Praktikum. Der Kurs schließt mit einem gemeinsamen Wochenende. Eine Prüfung gibt es nicht.
Supervision hilft den Sterbebegleitern
Dennoch eignet sich nicht jeder zum Sterbebegleiter. „Wir laden Interessierte zunächst zu einem Vorgespräch ein“, sagt Heike Jost. „Wir versuchen mit unserer Menschenkenntnis herauszufinden, ob sich der jeweilige Bewerber auch zurücknehmen kann. Außerdem muss er genügend Empathie mitbringen und sich abgrenzen können“, ergänzt Claudia Arend. Das mache die Qualität der Arbeit aus. „Und wir legen auf Qualität großen Wert“, betont Heike Jost. Nach dem Kurs würden den Sterbebegleitern daher auch alle zwei Monate eine freiwillige Supervision durch eine professionelle, externe Kraft angeboten.
Längere Auszeit
Wolfgang Steffen nimmt diese Supervision gern in Anspruch. „Es ist gut, wenn eine außenstehende Person auf das eigene Verhalten blickt und es ist auch gut zu erfahren, dass andere Sterbebegleiter ähnliche Probleme haben“, sagt der Lehrer aus dem Berufsbildungszentrum Winsen. Das mit der todkranken Frau und ihrer letzten Amrum-Reise beispielsweise sei ihm dann doch an die Nieren gegangen. „Sie starb ein paar Tage später. Ich habe von ihrem Tod in der Schule erfahren und musste noch zum Unterricht“, beschreibt der gebürtige Saarländer. „Es hat mich Kraft gekostet, die Trauer, die auch ich empfand, erst einmal auszublenden.“ Doch der Tod kenne nun mal keinen Stundenplan. Steffen: „Ich habe dann eine längere Auszeit gebraucht, bevor ich wieder jemanden auf den letzten Weg begleiten konnte.“
Auch Angehörige werden begleitet
Wolfgang Steffen bekommt wie alle anderen Sterbebegleiter seine „Aufträge“ direkt aus dem Büro. Die Koordinatorinnen erhalten Anfragen und vereinbaren einen Erstbesuch bei den Betroffenen. „Es handelt sich dabei nicht immer um Sterbende, sondern manchmal auch um deren Angehörige, die mit der Situation nicht umgehen können. Auch sie werden auf Wunsch von uns begleitet“, erklärt Claudia Arend. Nach dem Erstbesuch entscheiden die Koordinatorinnen, welchen der zahlreichen Ehrenamtlichen sie für die Person auswählen. „Das richtet sich auch nach Hobbys oder den Berufen der Sterbebegleiter“, erklärt Jost.
Chemie muss stimmen
So begleitete Wolfgang Steffen auch schon einmal eine Lehrerin. „Sie wollte gleich wissen, wie Schule heutzutage funktioniert“, erinnert sich der Maschinenbau- und Politikstudierte. „Da war das Eis gebrochen.“ Steffen telefoniert zunächst mit den Menschen, um die er sich kümmern will. „Habe ich bei diesem Gespräch den Eindruck, dass es keine Anknüpfungspunkte gibt, lehne ich die Begleitung ab“, sagt er. Das sei aber noch nie vorgekommen. Doch die Chemie müsse stimmen. Nur dann könne sich der Sterbende zu befreienden Gesprächen in einem Umfeld, in dem er sich wohlfühle, öffnen.
Sehnsucht nach Normalität
Entgegen dem Klischee würden Sterbende nicht in erster Linie über ihre Krankheit, den Tod und das „Was kommt danach“ reden wollen. „Wonach sie sich sehnen, ist ein Stück Normalität“, sagt Steffen. Angehörige seien oft nicht in der Lage, diese Normalität zu vermitteln. „Sterbende haben Angst um ihre Angehörigen, die Angehörigen haben Angst um den Sterbenden“ , weiß der Wahllüneburger. Er als Außenstehender teile diese Angst nicht. Da seien etwa Gespräche über das, was nach dem Tod geregelt werden müsse, zumindest auf einer Seite emotionsfrei führbar. „Sterbende wollen auch oft auf ihr Leben zurück blicken. Sie zeigen mir Fotoalben oder erzählen von vergangenen Zeiten.“
Frieden mit dem Leben schließen
Für die Betroffenen sei es wichtig, Frieden mit diesem Leben zu schließen. Und auch noch einmal Dinge zu unternehmen, die sie noch nicht gemacht hätten. „Ich erinnere mich an eine Frau, die jedes Café in Lüneburg kennenlernen wollte“, sagt Steffen. Zeitlich gibt es bei den Sterbebegleitern des Ambulanten Hospizdienstes grundsätzlich keine Beschränkungen. „Wir passen uns dem Tempo der Menschen an“, sagt Heike Jost. „Wenn sie mehr Begleitung haben wollen als ursprünglich geplant, dann organisieren wir das.“
Wolfgang Steffen richtet immer einen fest Tag ein. Der ist nach Bedarf ausbaubar, je nachdem, wie sich das Ehrenamt zeitlich mit seinem Beruf vereinbaren lässt. Erfahrungsgemäß muss er flexibler werden, wenn der Tod kurz bevor steht. Noch einmal die Hand tröstend halten, einfach nur da sein, auch wenn Gespräche schon nicht mehr möglich sind – das ist wichtig für die Sterbenden.
Anspruchsvolles Ehrenamt
Warum nur, mag man sich da fragen, ist Wolfgang Steffen ausgerechnet Sterbebegleiter geworden? „Das sind vielschichtige Gründe“, sagt er. „Dieses Ehrenamt ist anspruchsvoll. Es ist zwar schwer, aber es belastet mich nicht.“ Jeder einzelne, den er begleitet habe, habe bei ihm positive Spuren hinterlassen. „Ich nehme aus einer Betreuung mehr mit, als ich geben kann. Ich fühle mich bereichert und unendlich wertgeschätzt“, sagt er. Eine Wertschätzung, die er als Lehrer oft vermisse. „Ich war selbst schon in Situationen, wo ich froh war, dass mir Menschen zur Seite gestanden haben, die ein Ohr für mich hatten und ohne die ich es nicht geschafft hätte.“
Der Angst vor dem Ende stellen
Das Ehrenamt gebe ihm die Möglichkeit, etwas von diesem Glück zurückzugeben. „Wenn ich Sterbende begleite, relativieren sich auch meine Probleme. Ich lerne, dass Demut etwas Wunderbares ist.“ Und schließlich werde der Tod bei ihm zunehmend zur Normalität. „Der Tod ist für mich aus seiner gesellschaftlichen Tabuisierung herausgetreten. Ich stelle mich jetzt der Angst vor dem Ende und kann so mit der Unerbittlichkeit des Todes auch selbst besser umgehen.“
Supervision
Die Sterbebegleiter:innen haben alle zwei Monate die Gelegenheit zur Supervision. Einige kommen ganz regelmäßig, andere gelegentlich und wieder andere, wenn ihnen gerade etwas auf der Seele liegt. Es tut gut, in dem geschützten Rahmen auszusprechen, was belastet. Das Gespräch mit der Supervisorin und mit den wohlmeinenden Kolleg:innen dient dazu, Schweres zu tragen, sich über Irritierendes klar zu werden, die Freude über Schönes zu teilen, sich gegenseitig zu bestärken. Häufige Themen sind die Balance zwischen professioneller Nähe, Anteilnahme und Zuneigung und einem gesundem Selbstschutz, genauso wie das Sammeln von Ideen, wie der Kontakt zu stark eingeschränkten, vielleicht dementen Sterbenden angemessen, und manchmal über einen unerwartet langen Zeittraum, ideenreich gestaltet werden kann. Die Abschlussrunde ist oft gefüllt mit „wie gut, dass ich heute wieder da war“, „ich gehe bereichert, habe neue Ideen für meine Situation“, „bin froh, ein Teil dieser Gemeinschaft zu sein“.