Wenn Jen Tonic alias Jennifer Jekel der Duft von Flieder in die Nase steigt, weckt er sofort wohlige Erinnerungen in ihr. Sie denkt dann an ihre Kindheit. An die Großmutter, die ihr die Liebe zur Pflanzenwelt weitergab. An den Wohnzimmertisch, der nie ohne frische Blumen da stand. Und vor allem an den Fliederstrauch vor dem heimischen Balkon, der mit der großen Magnolie und dem Ginko einen beständigen Ruhepol ergab.
Ein Leben ohne Grün mag sich Jen Tonic nicht vorstellen, für die junge Tattoo-Künstlerin, die gebürtig aus dem Raum Stuttgart stammt, spielt es eine zentrale Rolle. Kürzlich hat sie in Lüneburg mit The Evergreen Garden ihr erstes Tätowier-Atelier eröffnet. Der eigene immergrüne Garten.
Ein Ort der Ruhe und Entspannung
„Pflanzen haben den wohl größten Einfluss auf meine Arbeit, da sie meinen Stil maßgeblich geprägt haben. Ich entwerfe und tätowiere hauptsächlich botanische und naturnahe Motive“, erzählt die 28-Jährige. „Deshalb schwebte mir für die Gestaltung meines ersten eigenen Tattoo-Ateliers die Garten-Idee vor. Ein Ort der Ruhe und Entspannung. Tätowierungen können ein schmerzhafter und stressiger Prozess sein, umso wichtiger war es mir, eine beruhigende Atmosphäre für meine Kund:innen zu schaffen.“
Überall grün
Wohin die Augen sich in ihrem Atelier wenden, sie stoßen auf Grünes: an den Wänden, in Töpfen auf Boden und Anrichten. „Für mich symbolisiert die Farbe Natur. Das wirkt entspannend und harmonisierend zugleich.“ Etwa 30 Pflanzen auf 100 Quadratmetern sind hier zu hegen und zu pflegen, gut die gleiche Menge wartet nach Feierabend in ihrer privaten Wohnung. Seit neuestem ist sie auch stolze Besitzerin einer Kleingartenparzelle. „Die langsame aber stetige Entwicklung von heranwachsenden Pflanzen tagtäglich zu beobachten, erinnert mich daran, mehr im Hier und Jetzt zu sein und mich den schönen Dingen im Leben zu widmen“, so die Künstlerin.
Neues Aufblühen der Pflanzenliebe
Die Sehnsucht nach einer Verbindung zur Natur, vor allem im urbanen Raum, ist weit verbreitet. Dafür sprechen auch die Zahlen, die der Bundesverband Zierpflanzen im vergangenen Februar für das Jahr 2021 herausgab. Mit einem Verkaufswert von 0,6 Milliarden Euro verzeichneten grüne Zimmerpflanzen demnach eine Wachstumsrate von 15 Prozent gegenüber dem Vorjahr und damit auch den deutlichsten Sprung innerhalb des Gesamtmarktes. Ebenso deutlich sichtbar wird das neue Aufblühen von Pflanzenliebe in den Sozialen Medien. Wer Inspiration sucht für das eigene Zuhause, Pflegetipps oder -anleitungen benötigt, ist auf Plattformen wie Urbanjunglebloggers richtig aufgehoben, dem größten globalen Netzwerk für Planzenliebhaber, dessen Instagramkanal rund 1,2 Millionen Menschen folgen.
Viel Grün um sich herum
Eine davon ist die Lüneburgerin Steffi W., die unter dem Benutzernamen @Makrameenia ihre eigene Leidenschaft an grünen Freu(n)den dokumentiert. Erst mit Beginn der Pandemie stieg sie ein in den Zirkel, inzwischen ist ihr Kanal auf stolze 30.000 Follower gewachsen, Tendenz steigend. „Meine Mutter auf Usedom hatte auf jeden Fall den Drang, immer viel Grün um sich herum zu haben, für mich selbst ging das aber eine ganze Zeit lang unter“, sagt die Bürokauffrau, die mit ihrer Familie am Rande der Hansestadt lebt, auf die Frage, wie sie sich ihre Faszination erklärt.
Der Umzug in ein Haus gepaart mit dem Lockdown und ihrer Begeisterung für die Knüpftechnik Makramee habe es dann mit sich gebracht, dass sie ihr Hobby um Zimmer- und auch Gartenpflanzen entwickeln und ausleben konnte. „Plötzlich wurde für mich auch das Züchten bestimmter Sorten immer interessanter. Wenn ich mir heute alte Bilder ansehe, das große Wohnzimmer ohne grün, wo nun alles mit Pflanzen bedeckt ist, frage ich mich manchmal, wie ich mich wohlfühlen konnte.“
Kein reinen dekorativen Effekt
Wo früher Alpenveilchen und Bubikopf auf ihren gehäkelten Platzdeckchen den Raum zierten, machen sich heute Syngonium, die Philodendron Gloriosum mit ihren markanten herzförmigen Blättern und andere Exoten breit. Da genügt weder die Fensterbank, noch kommt es dabei in den meisten Fällen rein auf den dekorativen Effekt an. Das Lebensgefühl sei zentral, bei dem es nicht zuletzt auch um Verantwortung gehe, denn die Pflanzen gäben eine Struktur vor, so Makrameenia.
„Es hat was sehr Beruhigendes sich zu kümmern, zu gießen, zu besprühen, auf Schädlinge zu überprüfen, sich um die kleinen Ableger zu kümmern und sie weiter zu verschenken. Das macht einfach Spaß und ergibt meiner Meinung nach einen Sinn“, so die 35-Jährige, die auf ihren gut 100 Quadratmetern Wohnfläche ebenso viel Pflanzen betreut. Plus Garten. „Man setzt sich automatisch mit den unterschiedlichen und teils anspruchsvollen Bedürfnissen der jeweiligen Pflanze auseinander und schaut, was man Gutes für sie tun kann. Sie sind nicht nur schön, sondern auch auf eine Art Mitbewohner, da möchte man natürlich, dass es ihnen auch gut geht.“
Die langsame aber stetige Entwicklung von heranwachsenden Pflanzen tagtäglich zu beobachten, erinnert mich daran, mehr im Hier und Jetzt zu sein und mich den schönen Dingen im Leben zu widmen.Jen Tonic
Tattoo-Künstlerin
Dabei bestechen die Pflanzen nicht nur durch die geschaffene Atmosphäre, sondern immer häufiger auch durch extreme Preise. Seltene Exemplare sind unter Sammlern begehrt, vor allem für solche mit ungewöhnlicher Panaschierung, der Blattfärbung, muss tief in die Tasche gegriffen werden – oft im drei-, teilweise im vierstelligen Euro-Bereich. In Neuseeland wurde im Juni 2021 ein sehr seltenes Exemplar der Gattung Rhaphidophora Tetrasperma für umgerechnet 16.000 Euro versteigert.
Preise, die Jen Tonic und Makrameenia gleichermaßen abschrecken. „Ich hatte eine Phase, in der ich bestimme Pflanzen gesammelt habe, jedoch war der Frust irgendwann zu groß, wenn die teuren grünen Mitbewohner doch einmal eingingen“, erzählt die Tattoo-Künstlerin. Mittlerweile, sagt sie, kaufe sie fast ausschließlich im lokalen Handel, auch seien viele ihrer Pflanzen ein Geschenk gewesen. „Und zwar solche, die es einem auch verzeihen, wenn man sie einmal vergisst.“
Gleichgesinnte für Tausch kennenlernen
Makrameenia hingegen liebt den Tausch. Gleichgesinnte lerne man schnell über das Internet kennen und komme so auch mal an richtige Exoten und seltene Exemplare. „Klar greife ich auch mal im Handel zu, aber das passiert selten, weil ich mir den Nachhaltigkeitsgedanken erhalten möchte und es einfach Spaß macht, die kleinen Raritäten großzuziehen. Ich habe oft überlegt, ob ich mehr als 100 oder sogar 1000 Euro für eine Pflanze ausgeben sollte, aber meine klare Antwort ist einfach „Nein“, den Markt möchte ich nicht unterstützen.“
Bei allen kleinen oder großen Besonderheiten, die sich in den Sammlungen von Jen Tonic und Makrameenia finden lassen, sind die Favoriten doch bodenständig. Hier ist es der Zierspargel, dort der geerbte 50-jährige Geldbaum. Und für beide steht fest: Alles Gute kommt von unten.
Makramee …
… bezeichnet eine aus dem Orient kommende Knüpftechnik zur Herstellung von Ornamenten, Textilien oder Schmuck. Mit den Kreuzrittern und den Mauren (über Spanien) gelangte die Kunstform nach Europa. Hier erlebte sie seitdem mehrere Blütezeiten, in Deutschland letztmals in den 1970er-Jahren. Inzwischen liegt die Technik erneut im Trend. Auf dem Instagram-Account von @makrameenia finden Sie Kunstvolles zum Bestaunen und Nacharbeiten.