Im Sommer Orchideen, im Winter Amaryllis. Auf Marthas Fensterbank gibt es einen unumstößlichen Rhythmus. Mehrmals täglich schaut die leicht demente Seniorin auf ihre Zimmerpflanzen, erfreut sich an den bunten Blüten, hegt und pflegt sie und leidet jedes Mal, wenn einer ihrer Augenweiden eingeht. Eine leere Fensterbank käme für Martha nie in Frage. Auch keine anderen Gewächse. Fragt man die frisch verwitwete Blumenliebhaberin, warum, antwortet sie stets mit dem gleichen Halbsatz: „…ist gut für die Seele“.
Positive Effekte auf die Psyche
So falsch liegt Martha da gar nicht. Dass die Natur nachhaltig positive Effekte auf die Psyche haben kann, bewiesen schon zahlreiche Untersuchungen. Jüngst haben Forscher des Leipziger Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung beispielsweise herausgefunden, dass Stadtbewohner weniger zu Depressionen neigen, je mehr Bäume sich in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnungen befinden.
Psychiatrische Klinik mit Parkanlage
Sozialpädagogin Claudia Jon, Leiterin des Sozial- und Kulturzentrums der Psychiatrischen Klinik Lüneburg, hält die Erkenntnis, dass die Natur einen positiven Effekt auf die Psyche hat, für schon lange gesichert. Sie verweist auf die Geschichte ihrer Einrichtung: „1901 wurde die heutige Psychiatrische Klinik Lüneburg (PKL) als ‚Provinzial Heil- und Pflegeanstalt‘ eröffnet – und zwar ganz bewusst mit einer weitläufigen Parkanlage und zahlreichen Gebäuden im Pavillonstil.“
Verbundenheit zur Natur
Die positiven Auswirkungen der inzwischen denkmalgeschützten Parkanlage seien uneingeschränkt aktuell geblieben. „Wir machen beispielsweise im Rahmen von Achtsamkeitstraining lange Spaziergänge mit den Patientinnen und Patienten, um sie die Verbundenheit zur Natur erfahren und spüren zu lassen“, sagt Jon. „Dass die Nähe zur Natur der Seele gut tut, lässt sich dabei unmittelbar erleben. Die Patientinnen und Patienten sind auch oft alleine auf dem PKL-Parkgelände unterwegs, umarmen Bäume oder suchen deren Nähe auf andere Weise, etwa indem sie sich unter herabhängenden Ästen ausruhen.“
Natur als Therapieraum
Der Lüneburger Reinhard Behnisch nutzt die Natur sogar als Therapieraum. Der Systemische Coach geht mit seinen Kunden in den Stadtwald, in den Kurpark, zum Kalkberg oder zum Ilmenautal, damit sie in der Natur zu sich selbst finden. „Die Natur ist so gut ausgestattet, dass sie uns Berührungspunkte bietet, um unser Innerstes wieder zu ordnen, sodass wir beispielsweise Krisen besser bewältigen können“, sagt der Therapeut. Auf seiner Internetseite www.geh-leicht-coaching.de erläutert der ehemalige Wirtschaftsinformatiker und Unternehmensberater verschiedene Möglichkeiten, die Natur als Weg zu nutzen.
Zimmerpflanzen wirken sich auf Psyche aus
Aber können sich auch Zimmerpflanzen positiv und nachhaltig auf die Psyche auswirken? „Ja“, meint die österreichische Wohnpsychologin Dr. Barbara Perfahl. Sie befasst sich damit, wie Räume Menschen beeinflussen und wie diese Räume so gestaltet werden können, dass man glücklich darin lebt. Auch Büro-Chefs auf der Suche nach der Wohlfühlatmosphäre, die die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter optimiert, gehören zu ihrem Klientel. Dr. Perfahl hat von 2009 bis 2019 in Klecken/Rosengarten (Landkreis Harburg) gelebt. Während dieser Zeit beriet sie auch Lüneburger Kunden.

Natur ist in uns verankert. Deshalb gehen Stadtbewohner in den Park, möchten gern einen Balkon haben, wo sie heraus- und hinunterschauen können oder ihre Pflanzen ziehen.Dr. Barbara Perfahl
„Sehen wir uns unsere Evolution an, dann verbringen wir erst seit ganz kurzer Zeit unser Leben überwiegend, manchmal sogar bis zu 90 Prozent, in geschlossenen Räumen“, sagt die Psychologin. Das ganze System des Menschen – die Wahrnehmung, die Emotionalität und die Funktionalität des Verstandes – sei auf die Natur ausgerichtet. „Und das bedeutet: Natur tut uns gut!“ Auch ein kleines Element wie eine einzelne Zimmerpflanze, die man gerne anschaue, könne dafür sorgen, dass man entspanne. „Forscher haben festgestellt, dass Menschen sich grundsätzlich in einem mittleren Reizniveau am wohlsten fühlen, also in einem Umfeld, das nicht zu viele und nicht zu wenige Reize bietet“, erklärt Dr. Perfahl. Spannenderweise biete die Natur in ihrer Reizkomplexität exakt dieses mittlere Reizniveau.
Natürliche Umgebung als Unterstützung
„Unser Wahrnehmungsapparat hat sich an der Natur entlang entwickelt.“ Deshalb funktionierten die Menschen dort auch am besten. „Warum zieht es denn die Leute aufs Land, in den Park oder in die Natur zur Erholung?“, fragt die 49-jährige Expertin und gibt sogleich die Antwort: „Natur ist in uns verankert. Deshalb gehen Stadtbewohner in den Park, möchten gern einen Balkon haben, wo sie heraus- und hinunterschauen können oder ihre Pflanzen ziehen.“ Der Mensch sei zwar anpassungsfähig und könne sich daher auch in geschlossenen Räumen wohlfühlen.
„Unterstützend dabei wirkt aber immer eine natürliche Umgebung.“ Dazu bedürfe es keines Lebens in einem Dschungel. Dr. Perfahl: „Unser Gehirn lässt sich gern austricksen. So kann schon eine Zimmerpflanze das Naturprogramm in mir lostriggern. Oder eine Farbe – eine grüne Wand zum Beispiel. Oder Naturmaterialien wie Holz“, sagt die gebürtige Linzerin. So seien es oft kleine Details, die zu dauerhaften positiven Effekten auf die Psyche führten.
Mikroerholung durch Blick nach draußen
„In der Forschung kennt man den ‚Aufmerksamkeits-Erholungseffekt‘: In einem Experiment hat man festgestellt, dass Menschen Denksportaufgaben schneller lösen können, wenn von ihrem Arbeitsplatz aus ein Blick in die Natur möglich ist“, erklärt Dr. Perfahl. So seien die Ergebnisse jener Teilnehmer der Studie, die während der Lösung der Aufgaben auch mal aus dem Fenster in die Natur lugten, signifikant besser gewesen als jener Teilnehmer, die diese Möglichkeit nicht hatten. „Dabei genügte ein kurzer Blick nach draußen, um eine Mikroerholung auszulösen.“
Stressabbauend in Büroräumen
In Japan bestätigte das Forscherteam von Julia Ayuso Sánchez die gleichen Effekte durch Zimmerpflanzen. Es hatte Töpfe mit Drachenbäumen, Aloe Vera und Bogenhanf in Büroräume platziert, die täglich für einen bestimmten Zeitraum wieder entfernt wurden. Ergebnis: In der Zeit, in der die Töpfe mit den Pflanzen in den Büroräumen standen, empfanden die Arbeitnehmer ihre Aufgaben als weniger belastend. Die Pflanzen wirkten stressabbauend, was auch Speichelproben der Studienteilnehmer bewiesen.
Meditationsähnlichen Prozess
„Zimmerpflanzen fördern physiologische Prozesse und haben einen meditationsähnlichen Effekt auf uns – selbst wenn wir uns nur einige Minuten lang in ihrer Nähe aufhalten“, schrieb Anna Gielas 2019 in „Psychologie heute“. Dabei bezog sie sich auf eine Untersuchung von Jie Yin und seinen amerikanischen Kollegen. „In ihrem Versuch reichten bereits fünf Minuten, um den Blutdruck der Versuchsteilnehmer stärker zu senken als nach einem fünfminütigen stillen Aufenthalt in einem pflanzenleeren Raum.“
Pflanzen richtig platzieren
Wie viele Zimmerpflanzen und welche Arten man zum Glücklichsein brauche, hänge vom Typ des jeweiligen Menschen und von den weiteren Reizen (etwa Kontraste, Farben) in den Räumen ab, meint Psychologin Dr. Perfahl. Nur sollte man die Zimmerpflanzen nicht falsch im Raum platzieren. „Stehen sie im Weg, sodass man ihnen ausweichen muss, dann setzt auch bei ihrem Anblick kein Erholungseffekt mehr ein“, sagt die Expertin. „Der Mensch muss schon die zentrale Rolle in seinen Wohnräumen spielen.“