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von Julia Drewes
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Seit Beginn des Wintersemesters 2021 beschäftigt sich eine Gruppe Architekturstudierender der Hamburger HafenCity Universität (HCU) damit, unentdecktes Potenzial des Lüneburger Brauhaus Nolte aufzudecken und weiterzuentwickeln. Es geht darum, dem traditionsreichen Familienbetrieb eine stabile Brücke in die Zukunft zu bauen (PRISE berichtete). Den Eigentümern Hans-Walter, Hannelore und Carsten Nolte schwebt dabei ein integrierter Kultur- und Gewerbekomplex vor. Ein Ort, der die Geschichte des Hauses nicht vergessen lässt, Genuss und Vergnügen im Mittelpunkt hält, der Menschen aber ebenso Raum zur freien Entfaltung bietet und dazu, Netzwerke zu knüpfen. „Nolte 2030“ ist der Arbeitstitel dieser innerstädtischen Oase in spe. Sechs Monate nach dem Startschuss wurden die Entwürfe am 31. März in Hamburg vorgestellt.

Fehlende Genussmöglichkeiten

24 Studierende treten an diesem Tag in Teams vor das Plenum, um den Zuhörenden – Kommilitonen, Dozenten, Noltes, Presse – ihren Ansatz vorzustellen. Das funktioniert über Sprache, Powerpoint, reichlich Klebstoff und Pappe. Svea Asmussen und Finja Riebesell machen den Anfang.
Basierend auf ihrer städtebaulichen Analyse, die sie wie alle folgenden Sprecher:Innen anhand des Schwarzplans des Stadtteils Neu Hagen veranschaulichen, fehle es dem Quartier an Genussmöglichkeiten. „Neu Hagen sitzt buchstäblich auf dem Trockenen“, stellt Finja Riebesell fest und Hans-Walter und Carsten Nolte nicken synchron.

Im Vordergrund das Bier-Erlebnis

„Bei dieser Beobachtung setzt unser Entwurf an, wir möchten das Areal zu einer alternativen Genuss-Achse für Anwohner, Lüneburger und Besucher machen.“ Das noltetypische „Bier-Erlebnis“ solle dabei nach wie vor im Fokus stehen, dazu gäbe es Raum für Kooperationspartner, Sport und Workshops. Dafür versetzen die zwei Frauen im Haupthaus die eine oder andere Wand, bauen auf den Faktor „Sonne“ durch großzügige Oberlichter und Fensterfronten. Privat genutzte Räume müssten zugunsten einer weitläufigen Dachterrasse in den hinteren Teil des Gebäudes verlagert werden – diese soll künftig Schauplatz für Open-Air-Biertastings sein. Die Noltes hören Asmussen und Riebesell aufmerksam zu, denn gerade die Details sind oft so raffiniert wie naheliegend. Das Notizbuch, das vor Carsten Nolte liegt, füllt sich.

Bestand klug neugeordnet

Dozent Matthias Kulcke lobt die Studentinnen im Nachgang für die „starke Qualität“ ihres Entwurfs, für den „kreativen und doch sensiblen Umgang mit den Wünschen der Familie Nolte“ sowie den Gegebenheiten vor Ort. „Die Präsentation ist nachvollziehbar und damit überzeugend, ihr habt den Bestand klug neugeordnet“, findet er. Svea Asmussen und Finja Riebesell freut das positive Feedback. Denn selbst, wenn die Noltes sich nicht für ihren Entwurf entscheiden sollten – die Präsentation ist als Prüfungsleistung Teil der Endnote, ein gutes Stück Anpannung darf jetzt abfallen.

Ein Stadtteil im Stadtteil

Weiter geht es mit den Ideen von Jakob Kleinfelder und Finn Britze, sie wollen einen „Stadtteil im Stadtteil, einen diversen Ort, der immer im Prozess ist“ schaffen. Mit ihrer Präsentation führen sie den Noltes die Stärken des Betriebs vor Augen, ein Dreifaltigkeits-Modell basierend auf den Bausteinen Herstellung, Konsum und Bildung. „Das sind die Elemente, die das Brauhaus definieren“, stellt Britze fest. „Wir finden, es lohnt sich, sich das einmal vor Augen zu halten. Darauf sollte man aufbauen.“ 

 

Foto: nh/Janina Grupe

Gastronomische Ergänzungen

Hans-Walter Nolte wirft seinem Sohn ein „Gut gesehen!“ zu. Der nickt zustimmend, lässt Augen und Ohren aber konzentriert auf den Rednern. „Auf dem Schwarzplan sieht das Gelände der Noltes klein aus, aber ich denke, inzwischen wissen wir alle: Es ist alles andere als klein“, so Architekturstudent Britze in seinem Vortrag weiter. Füllen wollen er und Kommilitone Jakob Kleinfelder die von ihnen diagnostizierten Leerstellen mit gastronomischen Ergänzungen, einer Bäckerei beispielsweise, einer Rösterei und einem Café. 

Branchenübergreifender Co-Working-Space

Auch neue Elemente fänden Platz: Sie haben Raum für einen branchenübergreifenden Co-Working-Space in das Konzept gedacht, genauso Werkstätten für verschiedene Gewerke, in denen sich Interessierte beizeiten ausprobieren dürften, eine Szenebar und die Neuauflage des Roxy-Kinos, einen Erlebnisgarten mit Klettergerüsten und Hopfengewächshäusern, um die Elemente Geschichte und Zukunft zu verbinden. „Das alles ist als Kreislaufwirschaft zu sehen, mit Solarenergie und Biogas“, sagt Jakob Kleinfelder. „Auf diese Weise schaffen wir Unabhängigkeit, die die neue nachhaltige Kultur Lüneburgs unterstützt.“

Viele Augen sehen mehr

Kino, eigener Hopfenanbau und Kreislaufwirtschaft? „Das sind alles ziemlich geniale Ideen, die nachhallen werden, das weiß ich jetzt schon“, kommentiert Nolte senior im Anschluss. Wenn man so lange Zeit im Geschäft sei, wie seine Frau und er, laufe man oft ungewollt an potenziellen Stellschrauben vorbei, gibt er zu. „Aber viele Augen sehen mehr, deshalb lohnt sich die ganze Aktion für uns sehr.“ Auch Sohn Carsten Nolte fühlt sich abgeholt: „Wir werden hier gerade von Außen reflektiert, das ist für uns richtig spannend. Vor allem auch, weil man erkennt, dass wir nichts schlechtreden müssen. Es geht einfach darum, auf den Gegebenheiten aufzusatteln.“

Foto: nh/Janina Grupe

Ein Mehrgenerationskonzept 

Nach dem obligatorischen Kurz-Urteil von Dozent Matthias Kulcke wird mit dem Entwurf des dritten Teams, Emma Hönnecke und Leonie Hildebrandt, auch eine dritte Zielgruppe adressiert: Familien. Dass es für sie in dieser Hinsicht ein dickes Minus gibt im Quartier, haben die zwei Studentinnen in einer gründlichen Umgebungs- und Entfernungsanalyse herausgearbeitet. 

 

Ihre Lösung ist ein Areal mit Mehrgenerationenkonzept: Räume der Begegnung zwischen Jung und Alt, z. B. ein weitläufiger Spielplatz samt Streichelzoo und Möglichkeiten zum Ausruhen. Ein Areal, das gestalterisch einem Dorf-Komplex nachempfunden ist und dessen Stelzen-Häuser durch Steganlagen miteinander verbunden sind. Was hier an einen Erlebnispark erinnert, nennen die zwei Frauen „retrofuturistisch“. Auch Sportangebote und Markthäuser für Kooperationspartner wären Teil des Ganzen.

Potential des Geländes verstanden

Während Matthias Kulcke von der angedachten Bauweise noch nicht zu hundert Prozent überzeugt ist, lobt er die digitale Herangehensweise seiner Studentinnen. „Man sieht hier exemplarisch, wie wichtig auch die Szenariendarstellung ist, ihr holt uns ab und führt uns direkt ins Geschehen. Ihr habt das Potenzial des weitläufigen Geländes verstanden und seid mutig“, findet er.

Viele Denkanstöße

Weitere zehn Entwürfe, reichlich Denkanstöße und gefüllte Notizbuchseiten später herrscht neben leichter Erschöpfung vor allem Begeisterung auf Seiten der Noltes. „Großes Kino“, so der Junior, „das hat Spaß gemacht! Ich sehe in allen Entwürfen deutliche Anknüpfungspunkte. Wir haben vieles gesehen, über das jetzt gründlich nachgedacht werden will.“ Die konzeptionellen Highlights, auf die sich die Familie Nolte nun festlegen muss, nehmen die Studierenden mit in eine weitere Entwurfsrunde. 

Vier-Tage-Woche

Die neuen Perspektiven und der so gewonnene Fahrtwind schlägt sich indes auch in der Bereitschaft nieder, das eigene Arbeitszeitmodell zu hinterfragen und bereits jetzt erste Schritte der Umorientierung zu gehen. Anfang Mai dieses Jahres starteten die Noltes das Projekt „Vier-Tage-Woche“ für festangestellte Mitarbeitende. Damit wolle man dem Personal einen dauerhaften Standard von drei freien Tagen pro Woche am Stück bieten und sich nicht zuletzt auch als attraktiver Arbeitgeber positionieren. Seniorchef Hans-Walter Nolte: „Letztlich geht es uns darum, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Jobs in der Gastronomie durch ein erhebliches Stresslevel geprägt sind. Der Job ist körperlich fordernd und anstrengend, das können wir alle aus Erfahrung sagen.“

Attraktiver Arbeitgeber werden

Viele gastronomische Betriebe wirkten nach außen „frisch und hipp“, so sein Sohn, unter der Oberfläche aber zeige sich oft, dass die Arbeitsbedingungen wenig zeitgemäß seien. „Die Anforderungen an Arbeitnehmende haben sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verschoben, damit verändern sich natürlich auch die Ansprüche. Moderne Unternehmen haben verstanden, dass es notwendig ist, darauf zu reagieren. Als kleiner, mittelständischer Betrieb möchten auch wir dahingehend ein Signal senden.“

Optimierung der Arbeitszeit

Setzte man im Brauhaus in der Vergangenheit auf Arbeitsverträge mit 5-Tage- bzw. 39-Stunden-Woche, unterschreibt man jetzt für die 35-Stunden-Woche bei 4 Arbeitstagen. Damit erhöht sich die tägliche Arbeitszeit von 7,8 auf 8,75 Stunden. Die Löhne wurden im Zuge der Vertragsanpassung nicht nach unten korrigiert, versichert der Seniorchef, sondern bleiben auf dem alten Niveau. Zusätzlich habe auch die letzte Tarifrunde des Gaststättengewerbes Berücksichtigung gefunden.
„Das ist in der Gastronomie kein Standard“, weiß Hans-Walter Nolte. „Im Zuge der Anpassung des Arbeitzeitmodells haben wir auch unsere Öffnungszeiten eingekürzt, von fünf auf vier Tage.“ In Anbetracht der aktuellen Situation habe das auch den Vorteil eines geringeren Energieverbrauchs. Derzeit, sagt er, feile man noch an einer besseren Auslastung vor und nach den Stoßzeiten. Sein Fazit nach dem ersten Monat: „Die Stimmung im Team ist super! Jetzt geht es weiter im Text.“

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