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Wie? Oder was?

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Von Kerstin Völling
Dass der Mensch mehr braucht zum Leben als die Befriedigung seiner Grundbedürfnisse, ist keine neue Erkenntnis. Schon in der Bibel steht: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.“ Wir brauchen Zuwendung, wir brauchen Kurzweil, wir brauchen Austausch, wir brauchen Inspiration. Kurzum: Wir brauchen alles, was unsere Sinne erquickt. Aber gerade das, was wir so lapidar unter dem Begriff „Kultur“ zusammenfassen, wurde während der Corona-Pandemie klein gehalten: keine Live-Konzerte, keine Theaterveranstaltungen, kein Kino, keine Lesungen. Manche Kulturschaffende mussten sich sogar anhören, dass die nicht „systemrelevant“ seien und sie ihren „Selbstverwirklichungstrip“ zum Wohl der Allgemeinheit nun einmal zurückstellen müssten. Doch wird das der Bedeutung der Kultur tatsächlich gerecht?

Um das zu klären, bedarf es zunächst der Definition von „Kultur“. Da gibt es nicht nur eine. Umgangssprachlich lassen sich heute neben den „Schönen Künsten“ auch viele Wortschöpfungen finden. So haben wir etwa von der „Leitkultur“ gehört oder der „Fankultur“, der „Zellkultur“, der „Esskultur“, der „Streitkultur“, der „Gesprächskultur“, der „Wohnkultur“, der „Körperkultur“, der „Subkultur“, der „Unternehmenskultur“. Und was ist im Gegensatz dazu eigentlich ein „Kulturbanause“? Das Wort „Kultur“ ist ein Latein-Mix aus den Worten „colere“ (intensiv pflegen, bearbeiten) sowie „cultura“ und „cultus“ (Anbau, Veredlung von Ackerboden). Ursprünglich fasste er alles zusammen, was vom Menschen gemacht ist und ohne dessen Einwirkung in der Natur nicht vorkommt. Erst später wurde der Begriff metaphorisch erweitert.

Ein Ringen um Emotionalität und Werte

Der Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) sah in der Kulturschaffung die Bestimmung des Menschen, mit der er die Natur ergänzt. Diesen Zweck könne der Mensch aber nur erfüllen, wenn er dabei seine moralische Fähigkeit zum kategorischen Imperativ („Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“) folge. Arthur Schopenhauer (1788–1860), ebenfalls ein Vordenker des modernen Kulturbegriffs, hob in seinem Text „Über die Weiber“ von 1851 besonders die Empfänglichkeit für Musik, Poesie und bildende Künste hervor, wenn auch in unschöner Abgrenzung zum „Affektieren“ und „Vorgeben“, das er allem Weiblichen zuschrieb. Der moderne Kulturbegriff umfasst also stets ein Ringen um Emotionalität und Werte. Und so versteht man unter Kultur heutzutage zumeist das von Menschen Geschaffene, das sowohl traditionelle Verhaltensweisen und bestimmte Wertvorstellungen fortschreibt und zugleich das Potenzial erhält, daraus neue Werte zu erzeugen.

In der Kultur ist nicht das Was entscheidend, sondern das Wie. Meine „Gesprächskultur“ sagt etwas darüber aus, wie ich mit meinem Gegenüber kommuniziere. Mit wem ich spreche, ist dabei unerheblich. Meine „Esskultur“ sagt etwas darüber aus, wie ich Speisen zubereite und sie verzehre: Vegan, vegetarisch oder lieber mit Fleisch, garniert, roh, mit Messer und Gabel oder Stäbchen. Was für ein Gericht dabei entsteht oder verzehrt wird, ist nicht relevant. Die Kultur beschreibt folglich, wie der Mensch mit etwas umgeht und/oder wie er Dinge, die vorhanden sind, in ein anderes Verhältnis zueinander setzt.

Für Prof. Dr. Christoph Brunner von der Leuphana Universität entstehen Kulturen immer dann, wenn sich bestimmte Zusammenhänge im Handeln verdichten. Zufälliges Agieren oder einmalige Handlungsweisen gehören (noch) nicht dazu. „Kultur ist etwas, was sich auch immer wieder neu hervorbringen muss. Sie setzt sich unter bestimmten Bedingungen eine Zeit lang zusammen und verändert sich, wenn diese Bedingungen nicht mehr gegeben sind“, sagt er. „Kultur schafft Identifikationsprozesse und ein Gefühl der Zugehörigkeit.“ Man fühle sich angesprochen – von Dingen, von Objekten, von Musik, von einer Sprache oder auch von Situationen. „Diese Affinität bildet dann die Grundlage, auf der man sich mit anderen verständigt“, beschreibt der Wissenschaftler für Kulturtheorie und Praktische Philosophie. Das könne man auch vor Ort beobachten: „Nicht umsonst nennt sich Lüneburg seit 2007 wieder ‚Hansestadt ́. Das schafft ein Zugehörigkeitsgefühl zum mittelalterlichen Kaufmanns- und Städtebund, eine Identität, mit der man als Stadtgemeinschaft auf andere Kommunen zugeht.“

 

Kultur kann zum Emanzipationsmotor werden.
Prof. Dr. Christoph Brunner

Brunner lehnt hingegen den Begriff des „geschlossenen Kulturkreises“ ab, der gern in politisch rechten Kontexten verwendet werde: „Da setzt man klare, unveränderbare Werte, Traditionen und Normen, die beispielsweise Deutsche von Franzosen aufgrund von vermeintlich essentiellen Differenzen unterscheiden. Für mich ist das keine Kultur.“ Bestimmte Bräuche, Umgangsformen und Nahrungsgewohnheiten, mit denen man aufwachse, prägten zwar die Emotionalität eines Menschen. Das sei aber nur eine Basis. Von dort aus müsse auch die individuelle Kultur stets offen für Veränderungen sein. Denn gerade weil Kulturen nicht ohne Emotionen funktionierten, mache sie das anfällig für Missbrauch: „Das Infragestellen von Traditionen beispielsweise erzeugt Angst vor Identitätsverlust. Und eine gewisse politische Propaganda zielt genau auf das Schüren einer solchen Angst ab“, weiß Brunner. Kultur sei immer auch eine Waffe, die gerade auf sinnlicher Ebene auch für kapitalistische Zwecke einsetzt werde. Deshalb bräuchten insbesondere Demokratien einen Raum für Aushandlungsprozesse. Die machten vor Kulturmissbrauch resilienter. Diese Aushandlungsprozesse müssten zudem sichtbar sein. Brunner: „Schon zu Schopenhauers Zeiten gab es Widerstand gegen das zeitgenössische Frauenbild. Damals konnten sich die vermeintlich marginalisierten Stimmen aber gesellschaftlich kaum Gehör verschaffen“, sagt er.

Ganz anders als in den 1960er-Jahren: Eine durch Rock ́n ́Roll und Beat entstandene Jugendkultur, die es vorher gar nicht gab, sagte den bis dato geltenden Gesellschaftsnormen den Kampf an. Sie stellte fast alle vorherrschenden Werte in Frage. Aus den Aushandlungsprozessen mit den älteren Generationen entstanden schließlich neue Rollenverständnisse für Männer und Frauen, die Entkriminalisierung von Homosexualität und auch ein anderer Umgang miteinander: So wurde etwa die körperliche Züchtigung von Schülern durch Lehrer verboten.

Kultur als Verbindung der Gesellschaft

„Das ist ein gutes Beispiel“, sagt Brunner, „Kultur kann zum Emanzipationsmotor werden.“ Die Voraussetzung dafür sei die Möglichkeit, mit alten Mustern zu brechen. Und da zeige das Wie einen Weg: „Wenn man nicht immer auf seinem Standpunkt beharrt, sondern eine Differenzierung der eigenen Meinung zulässt, dann schlägt das Brücken in ein neues Verständnis.“ Das könne man auch in der Kunst und in der Literatur beobachten. Elemente aus Alltagskulturen wie dem Punk der Mittsiebziger hätten nach einer gewissen Zeit schließlich auch den Einzug in konservative Institutionen gehalten. Brunner: „Wenn ich aus einer Ausstellung der Gegenwartskunst nicht irritiert rausgehe, dann ist etwas schief gelaufen. Die Ausstellung soll ja Emotionen in mir hervorrufen und so eine neue Perspektive auf die Welt und ihre Beziehungen eröffnen.“ Wichtig zu erkennen sei, dass Kulturen immer aus den Menschen heraus entstünden. Sie könnten nicht verordnet werden. „Der französische Psychiater und Freiheitskämpfer Frantz Fanon beschrieb, wie in den Kolonien die Sprache und die institutionelle Organisation des alltäglichen Lebens seitens der Europäer als kulturelles Bezugssystem installiert wurden. Anerkennung erhielten die Kolonisierten nur dann, wenn sie sich von ihrer eigenen Kultur und Sprache entfremdeten.“ Doch dieser Assimilationsversuch habe nicht funktioniert. Die meisten Kolonisierten hätten die Besatzersprache zwar erlernt, ihre eigene Sprache und vor allem ihre Sitten und Bräuche dennoch bewahrt. An diesen Beispielen könne man sehen, wie Kultur als Kampfplatz und Widerstandsmoment eine systemrelevante Rolle einnehme.

 

„Die Maläse unserer Zeit ist, dass viele um die eigene Identität fürchten, wenn sie sich anderen Kulturen öffnen sollen“, sagt Brunner. Und die Menschen, die aus dieser Angst andere Kulturen unterdrückten und von ihrer eigenen Perspektive niemals abrückten, seien für ihn „Kultur-Barbaren“ im Sinne des Philosophen und Kulturkritikers Walter Benjamin, keine „Kulturbanausen“. Letzteren Ausdruck verwende er nicht. „Unser Miteinander kann ruhig durch Differenzen bestimmt sein, ohne dass wir uns gegenseitig ausgrenzen müssen“, ist er überzeugt. Auch das sei eine Kultur, die eine Vielfalt von Identifizierungsmöglichkeiten schaffe. Und die halten letztendlich Gesellschaften zusammen. „Kultur ist der Kitt für eine Gesellschaft, denn bei ihr steht nicht allein das Rationale im Vordergrund. Kreativität, Empathie und Toleranz bewegen sich zwischen den Dingen und sind notwendig, damit sich neue Verbindungen eröffnen.“

 

Wie wichtig das ist, betont auch immer wieder der französische Honorarprofessor für Anthropologie, Jean-Jacques Hublin. Er beschäftigt sich schon seit Langem mit der Herkunft und der Evolution von Neandertalern. In ihrer mangelhaften Kultur sieht der Direktor am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie einen Faktor für ihr Aussterben vor rund 40.000 Jahren. In einem Interview, das in einem Artikel von Klaus Wilhelm auf der Internetseite der Max-Planck-Gesellschaft eingebunden wurde, zweifelt Hublin zwar nicht daran, dass der Neandertaler eine Sprache entwickelt und auch Kunstgegenstände wie Schmuck hergestellt hat. Im Gegensatz zum modernen Mensch habe er aber wohl nicht die Fähigkeit besessen, Geschichten hinter den Dingen zu erkennen. Es habe dem Neandertaler offensichtlich an etwas gefehlt, was die Kultur immer wieder beflügele: Die Fantasie. „Das ist ein ganz starker Faktor, den der Neandertaler offenbar nicht im Sinn hatte“, vermutet Hublin. Starke Kulturen zeichneten sich auch dadurch aus, dass sie Menschen hervorbrächten, die sich das Nie-Dagewesene vorstellten und danach strebten, es irgendwie in die Realität zu transformieren. Hublin vermutet, dass der moderne Mensch mit dieser Fähigkeit einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem Neandertaler gehabt habe.

Zur Person

Christoph Brunner ist seit 2016 Juniorprofessor für Kulturtheorie am Institut für Philosophie und Kunstwissenschaft (IPK) der Leuphana Universität Lüneburg. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit Politiken des Ästhetischen und neuen Formen des Pragmatismus in Bezug auf künstlerische und aktivistische Medienpraktiken. Er ist Teil der DFG-Forschungsgruppe „Mediale Teilhabe“ und koordiniert das Netzwerk „Anderes Wissen in künstlerischer Forschung und ästhetischer Theorie“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Derzeit forscht er zum Verhältnis von Modernität und Kolonisierung und schreibt eine kritische Einführung in die Kulturtheorie.

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