Von Ben Boles
Jede und jeder hat so etwas: einen Sehnsuchtsort, einen Glücksort. Einen Ort zum Krafttanken, zum Füllen des Energiespeichers, zum Loslassen, zum Entspannen. Das kann ein Ort sein, zu dem es uns immer wieder zieht, oder eine Landschaft, die wir noch unbedingt entdecken wollen. Oft haben Sehnsuchtsorte mit Inseln, Meer und Bergen zu tun, mit Natur in ihrer unmittelbarsten, sinnlichsten und überwältigendsten Form. Ein Sehnsuchtsort kann in der Ferne liegen oder ganz nah. Immer sind es Orte, die unserem Lebensgefühl gut tun. Prise hat Lüneburger gefragt, was sie mit dem Wort Sehnsuchtsort verbinden.
SA, 16. Juli / 19 Uhr
Noltes Brauhaus – Dahlenburger Landstraße 102
Wo könnte man eine Kneipentour besser beginnen als im altehrwürdigen Brauhaus von Hans-Walter und Hannelore Nolte. Erstens gibt es hier köstliches Bio-Hausbräu und zweitens bietet die Nolte‘sche Brauhaus-Küche die perfekte und dabei auch noch nachhaltige Grundlage für mein alkoholtechnisch herausforderndes Unterfangen. Die Einrichtung wirkt, als wäre hier irgendwann im vergangenen Jahrhundert die Zeit stehen geblieben. Doch weit gefehlt. Im Thekenschnack mit Hans-Walter erfahre ich Überraschendes. Er beendete vor gut 30 Jahren seine Karriere bei der Bank, um in die Fußstapfen seiner Eltern zu treten und als eine seiner ersten „Amtshandlungen“ schloss er den Laden für acht Wochen, um die gesamte Elektro- und Heizungsinstallation des Hauses erneuern zu lassen. Dafür wurde die komplette Einrichtung ausgeräumt und anschließend 1:1 wieder eingebaut. „Unsere Stammgäste fragten uns damals kopfschüttelnd, wofür wir eigentlich so lange geschlossen hatten“, lacht Hans-Walter heute noch über den Coup. Die Gäste im Schankraum und im Biergarten sind deutlich jünger, als man es vermuten könnte. „Wir haben kaum noch Gäste aus unserem Viertel, die ich noch alle beim Namen kannte“, so der Wirt. „Dank der Initiative von Carsten sind wir weit und breit die einzige biozertifizierte Gaststätte und sowohl im „Slow Food“-Genussführer als auch im „Lonely Planet“-Reiseführer verzeichnet. Dadurch haben wir auch viele junge Gäste sogar aus Hamburg und darüber hinaus.“ Cool! Nach einem Polaroid mit dem Chef muss ich jetzt aber langsam mal weiter.


SA, 16. Juli / 21 Uhr
Hackbarth‘s Eck – Marcus-Heinemann-Straße 24
Eine Eckkneipe wie aus dem Bilderbuch! Und potztausend – die Bude ist rappelvoll. Bei „Hacki“ läuft‘s. An der Theke begrüßt mich Wirt Mathias Lemm entsprechend gut gelaunt und freut sich über meinen Premierenbesuch. Mathias schmeißt das „Hacki‘s“ zusammen mit seiner Partnerin Susanne Frieling, die schon das legendäre „Bierdorf“ am Stint (heute „La Dolce Vita“) betrieb. Der Grund für die große Gästeschar ist auch schnell ausgemacht. „Pärchen-Dart-Turnier“ ist angesagt. Statt Preisgeld gibt‘s Fleisch- und/oder Sachpreise. „Das hält die geldgeilen Zocker fern“, erklärt mir mein Thekennachbar Friedhelm, von allen nur „Fred“ genannt. Er erweist sich als ein wahres „Lüneburger Kneipenlexikon“. Im Nu setzt er mich freundlich über alle längst geschlossenen aber unvergessenen Stint-Kneipen in Kenntnis und erzählt herrliche Anekdoten über Legenden wie Fussy Trapp, die „Old Dubliner“-Gründer Noel und Mercedes Redmond und natürlich den unvergesslichen „Heinzi“ aus der „eNTe“. Das Bier zeigt langsam seine treibende Wirkung. „Hackis stilles Örtchen“ begeistert mich gleich doppelt. Die Herrentoilette ist sauber und beinahe geruchsneutral gepflegt und mit ihren uralten Fliesen, den cremig glänzenden Kacheln und in dieser fast halbrunden Form selten gesehenen Urinal-Arena auch optisch ein Highlight. Ich fange an, diese Tour zu lieben. Doch leider muss ich jetzt erstmal weiter. „Bier geht auf‘s Haus“, ruft Mathias, „und grüß‘ mir die Kollegen!“
SA, 16. Juli / 22 Uhr
Gisi‘s Hohe Luft – Bilmer Straße 10
Wie oft bin ich auf dem Weg in die Stadt schon an dieser Kneipe vorbeigekommen!? Nun erklimme ich endlich die Stufen und stehe direkt vor der Wirtin Gisela „Gisi“ Gutzeit. Und die Freude und Überraschung sind groß. Gisi und ich, wir kennen uns bereits. Sie war am Todestag des guten Heinzi vor einigen Wochen in der „eNTe“ dabei, als ich gemeinsam mit Huw Hamilton vom Irish Pub ein paar Songs zu Heinzis Ehren gespielt und gesungen habe. Nur ahnte ich da noch nicht, dass sie die Gisi von der „Hohen Luft“ ist, die mit Heinzi ihren engsten und besten Freund verlor, der sie vor vielen Jahren zur Gastronomie brachte. Gisi ist Schweizerin aus dem französischsprachigen Biel und lebt schon seit 1993 in Lüneburg. An der Wand zeugt ein handgemaltes Alpenseepanorama von ihrer Herkunft und der Umgang mit ihren Gästen davon, dass sie hier ihren wahren Bestimmungsort gefunden hat. Sie ist für alle nur die „Muddi“. Und versorgt auch mich fürsorglich und aufmerksam mit Bier und Jägermeister, die sie sich auf keinen Fall bezahlen lassen möchte. Im Nebenraum wird auch hier fleißig gedartet. Und an der Theke entspinnen sich tolle Gespräche über Hunde, Musik und überhaupt die ganze Welt. Puhhh, ich beginne am Kompletterfolg meiner heutigen Mission zu zweifeln.

SA, 16. Juli / 23.30 Uhr
Altstadteck – Auf der Altstadt 27
Nach einem netten Klönschnack zwischendurch mit meiner lieben Freundin Bianca lande ich in der nächsten Eckkneipe im mächtigen Schatten der Bachkirche St. Michaelis. „Moin moin“ in die Runde und Bier bestellt. Ich traue meine Augen nicht. Da steht doch tatsächlich eine waschechte „Jukebox“ im Raum. Natürlich keine alte Wurlitzer und natürlich ohne Vinylscheiben. Aber immerhin, auch die gute alte Jukebox hat sich ins neue, digitale Jahrtausend gerettet. Mein Bier lässt auf sich warten. Das liegt jedoch nicht am langsamen oder schlechten Service. Diana hinter der Theke gibt dem Bier die Zeit, die es braucht. Dafür bekomme ich ein tipptopp gezapftes Helles mit perfekter, fester Schaumkrone. Besttnote! Um mich herum ist die Stimmung gut. Mann und Frau spielen Dart und das mit Bierernst. Die vorgerückte Uhrzeit macht sich bei einigen Gästen auch motorisch langsam bemerkbar und die ersten Taxen fahren vor. Diana verweist darauf, dass sie nicht die Chefin sei und verweigert sich daher hartnäckig dem Polaroid, zeigt aber im Umgang mit ihren „Pappenheimern“ alle Tugenden, die man im Kneipengewerbe haben muss. Der eine kriegt von ihr eine klare Ansage, die anderen begleitet sie fürsorglich zum Taxi und einer angeschickerten Dame mit Autoschlüssel in der Hand macht sie überzeugend deutlich, dass sie diese auf keinen Fall mit dem Auto vom Hof fahren lässt. Ich habe erst vier Stationen geschafft. Oha, das wird eng!
SO, 17. Juli / 01.15 Uhr
Down Under – Heiligengeiststraße 11
Das „Down Under“ ist für Lüneburger Verhältnisse ein echter Geheimtipp. Schräg gegenüber von der Rackerstraße und keine 100 Meter weg von „Felice“ (da komme ich später drauf zurück) führt eine gewundene Treppe hinab in eine mir bis dato gänzlich unbekannte Location. Hinter der ausladend großen Theke begrüßt mich freundlich lächelnd Ivan Jozic. Es ist um diese Zeit nicht mehr viel los und Ivan nimmt sich gleich mal die Zeit für einen kleinen Rundgang. Im hinteren Teil des Gewölbes öffnet sich auf einmal ein eigenes Universum. Da ist doch echt eine perfekt eingerichtete Club-Disco eingebaut. „Möbel, Theke, Discoraum habe ich alles selber gebaut und eingerichtet“, erzählt Ivan. „Ich hatte ja während Corona viel Zeit“, fügt er lachend hinzu. Na, das nenne ich mal Pragmatismus und Optimismus. A propos: Auch ich zeige mich von der optimistischen Seite. Da steht ein elektrischer Dart-Automat. Jetzt kann ich endlich mal selber ran an die Scheibe und Pfeile. Eine nette junge Dame erklärt sich belustigt zu einem Duell bereit und schnell wird klar, dass Darts kein Sport ist, den man am Ende einer Kneipentour um 2 Uhr nachts ausüben sollte. Mann, war das ‚ne Klatsche!
Mein Blick auf die Uhr zeigt mir dann, dass ich nicht nur beim Darten zu optimistisch war. Es ist halb drei, ich bin betrunken und müde. Ich glaube, ich muss nachsitzen. Ab ins Taxi und nach Hause. Nächste Woche geht’s weiter.

DI, 19. Juli / 18 Uhr
Café Klatsch – Am Springintgut 21
Ausgeruht und nüchtern treffe ich in der Musikkneipe Lüneburgs schlechthin auf Uli Schröder. „Mr. Klatsch“ ist mittlerweile 71 und für ihn steht fest: „Am Ende des Jahres ist für mich Schluss hier.“ Keine gute Nachrichten. Falls sich nicht doch noch ein solventer, musikbegeisterter Nachfolger findet, verliert Lüneburgs Musik- und Kneipenszene nach fast 39 Jahren eine ihrer wichtigsten Institutionen. „Bei mir treffen Uni-Professoren auf Studenten, Unternehmer auf Hartz-IVer, Alkoholiker und Junkies. Und Nachbarn kommen genau so gerne her wie Musikfans“, freut sich Uli über seinen wunderbaren Klatsch-Mikrokosmos. „Nur Nazis haben hier nix zu suchen“, ergänzt „Franky“, der selber ein Klatsch-Urgestein ist und regelmäßig sonntags eine Jamsession hier organisiert. Über all die Jahre hat Uli das Klatsch übrigens in Doppelbelastung geführt. In der Woche tagsüber Lehrer für Deutsch, Politik und Geschichte, abends und am Wochenende Kneipier. Respekt! Wir sitzen gemütlich im Biergarten hinterm Haus und ich belasse es bei der Hitze beim alkoholfreien Radler.
DI, 19. Juli / 20 Uhr
Zum Kreideberg – Thorner Straße 21
Nur 10 Minuten Fußweg bis „Zum Kreideberg“. Und doch fühlt es sich so an, als hätte mich der Fluxkompensator um 50 Jahre zurückgeschossen. Hier scheint sich seit der Eröffnung 1969 nicht viel bis gar nichts verändert zu haben. Das gilt für die Einrichtung und für den Inhaber Ulli Bernhard gleichermaßen. Ein lebendiges Museum. Ulli ist eine echte LSK-Fußball-Legende und vielleicht auch gerade deswegen nicht mehr gut zu Fuß. Zu seinen Stammgästen gehören auch Alfred und Tina. Die beiden zeigen sich freudig überrascht, dass ich mich zu ihnen auf den Kreideberg „verirrt“ habe. Ob ich sie auch erwähne in meinem Bericht? Na klar! Während Ulli sich etwas ausruht, holt Alfred für sich und Tina schnell selbst zwei Flaschen Flens hinter der Theke und macht sich Striche auf den Deckel. Oha, dafür wirst Du am Stint geteert und gefedert! Hier ticken die Uhren anders. „Wir Gäste haben Ulli endlich davon überzeugt die Preise zu erhöhen“, sagt er. „Bis Ende Juni hat er noch 1,50 Euro fürs Bier genommen.“ Jetzt sind es immerhin 2 Euro. „In den 70er- und 80er-Jahren hättest Du um diese Zeit gar keinen Tisch mehr gekriegt“, schwärmt Tina. Es fällt mir schwer, mich loszureißen. Alfred macht noch ein Polaroid und der Wirt verweigert am Ende herzlich dankend das Trinkgeld. „So ist er. Der Ulli lässt sich nichts schenken“ ruft Alfred. „Schreib das ruhig.“ Gemacht, Alfred, gemacht!

DI, 19. Juli / 21.30 Uhr
Rock Café Casa
Ich komme mir auf einmal vor wie der Hase mit dem Igel. An der Theke des Casa sitzt mein neuer „alter Bekannter“ Fred vom Hackbarth‘s Eck. Und hinter der Theke steht auch ein bekanntes Gesicht. Es ist Sven, 25 Jahre Bar(t)mann im „Pesel“. Zwei Institutionen unter sich. Und das Thema „Kneipe“ bleibt spannend die beiden Jungs füllen nun auch alle meiner verbliebenen Restlücken im Wissen über das bewegte Lüneburger Nacht- und Partyleben mindestens der letzten drei Jahrzehnte. Wegen der Hitze sitzt das Stamm-Klientel draußen vor der Tür und drinnen löst ein Rock-Klassiker den nächsten ab. Ich fühle mich wie mit 17 in meiner damaligen zweiten Heimat „Hansa Stube“ in Grevenbroich. Geile Zeiten! Ich hoffe für Sven, Kati und das Casa, dass sie auch noch viele davon erleben. „Live-Musik machen wir hier eigentlich gar nicht mehr“, bedauert Sven. „Wenn eine ganze Band hier spielt bleibt ja kaum noch Platz für unsere Gäste. Das lohnt sich dann für alle Beteiligten nicht.“ Vielleicht geht ja irgendwann mal was mit meiner Akustikgitarre. Mal sehen. Zu einem gemeinsamen Foto kann ich den guten Sven nicht überreden. „Das soll mal die Chefin machen“, sagt er. Die ist aber noch im Urlaub. Also muss ich für ein Selfie mit dem Blitzdings-Apparat herhalten. Geblendet und wohltemperiert ziehe ich von dannen. Bis bald, Jungs!
DI, 19. Juli / 22.30 Uhr
Felice – Rackerstraße 3
Es ist die wohl mit Abstand kleinste Kneipe der Stadt. Auch wenn Felice di Pietrantonio selbst als Bar bezeichnet, erfüllt sie alle Kriterien einer echten Kneipe. Nur, dass es hier wenige Sitzplätze innen und ein paar mehr auf Holzbänken vor der Tür gibt. Dafür trifft sich hier an lauen Sommerabenden viel von Lüneburgs buntem Volk. Heute ist so ein Abend. Ein eiskaltes Peroni später ist mein guter Alkoholfrei-Vorsatz dahin. Wen man hier aber auch so alles unter der Woche trifft! Die Mannschaft von Michi Röhm kommt auf ein Feierabend-Bier vorbei. Meine liebe Kollegin Jenny trifft sich mit einer Freundin und macht gleich mal ein Polaroid von mir und Felice, Check! Die Musik-Buddies Carsten und Naomi gönnen sich ein kühles Helles. Meine Ateliernachbarin Karin lädt mich auf ein zweites Peroni ein und sogar die „Nite Clubber“ Sandy und Mathias schauen vorbei. Und mittendrin strahlt Felice sein schönstes Strahlen. Ars vivendi mitten in Lüneburg. Und als im Hintergrund noch ein Motorrad röhrend durch die Fußgängerzone donnert, fühle ich mich für einen Moment wie auf einer Piazza mitten in Rom. Mille grazie, Felice.
