Startseite » Verführung à la carte

Verführung à la carte

von Gastautor
Erschienen: Zuletzt aktualisiert:

Von Kerstin Völling

Für uns Menschen gibt es kaum etwas Wichtigeres als die Nahrungsaufnahme. Neben regelmäßiger Flüssigkeitszufuhr brauchen unsere Körper festes Essen. „Kein Mampf, kein Kampf“ lautet dabei nur eine der zahlreichen Phrasen, die die Bedeutung der Ernährung verdeutlichen. Tatsächlich halten uns die vielen Redewendungen und immer wiederkehrenden metaphorischen Anspielungen in unserem Sprachgebrauch deutlich vor Augen, dass uns Essen viel mehr bedeutet als nur das nackte Überleben.

Essen als sinnliches Erlebnis

Bei uns geht „Liebe durch den Magen“ und das „Auge isst mit“. Gute Speisen können zum „Sex des Alters“ werden oder „Geschmacksexplosionen“ hervorrufen. Wir essen nicht nur, wir schlemmen, naschen, knabbern und verschlingen. Zuweilen frönen wir der Völlerei. Und wir sind wählerisch. Denn „was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht“. 

Essen ist also ein sinnliches Erlebnis. Und ob dieses sinnliche Erlebnis besonders nachhaltig und positiv auf uns einwirkt, beeinflusst ein Phänomen ganz entscheidend: der Genuss – ein „Kind“ der Kulinarik, der Mutter aller Ess-Genüsse. Denn ohne die Kochkunst würde diese Art von Genuss gar nicht existieren.

Kulinarik und Genuss

Schon die alten Römer wussten, dass es auf Zutaten ankommt, auf Vorbereitung, Verarbeitung und die In-Szene-Setzung der Mahlzeiten. Das Wort „Kulinarik“ stammt vom lateinischen „culinarius“ ab. Das bedeutet so viel wie „zur Küche gehörend“. Es impliziert, dass das Essen durch handwerkliche Künste kombiniert und verfeinert wurde.

Natürlich steht das WIE bei der Kulinarik im Vordergrund. Nur durch die besondere Zubereitung der Lebensmittel und ihre optisch ansprechende Präsentation kann überhaupt Genuss entstehen. Daher ist Kulinarik selbstverständlich auch ein Stück Kultur. Ess-Kultur indes konnten sich in vergangenen Jahrhunderten nur die Oberschichten leisten. Denn zur Kochkunst gehört auch immer eine gewisse Verfügbarkeit von Lebensmitteln. Während Vasallen das verzehrten, was ihnen „zwischen die Zähne“ kam – alles das, was ihre Lehnsherren übrig ließen, konnten sich die Oberschichten von ihren Köchen opulente Mahlzeiten kredenzen lassen, teilweise gar mit exotischen Gewürzen und oft an langen Tafeln.

Widerspiegeln des sozialen Rangs

Die englische Universität Reading fand in Zusammenarbeit mit der Benefiz-Organisation „Historic Royal Palaces“ beispielsweise heraus, dass am königlichen Hof der Tudors zwischen Ende des 15. und Anfang des 17. Jahrhunderts pro Jahr 1240 Ochsen, 8200 Schafe, 2330 Stück Rotwild, 760 Kälber, 1870 Schweine und 53 Wildschweine verspeist wurden. Wenn ein Adliger bei einer Mahlzeit am Hof nicht wenigstens aus 20 Fleischgerichten auswählen durfte, fühlte er sich herabgewürdigt. Kulinarik spiegelte auch immer den sozialen Rang und den Lebensstandard wider.

Die „reichen Pfeffersäcke“

Die Lüneburger Stadtführerin Cornelia „Conny“ Siebert weiß: „Bei Ausgrabungen wurden in unserer Hansestadt Pfefferkörner in Kloaken gefunden. Das ist ein Hinweis darauf, dass dies einmal eine wohlhabende Gegend gewesen sein muss.“ Denn nicht überall hin seien Pfefferkörner exportiert und auch nicht von jedermann verzehrt worden. Noch heute bezeichnet man ja in den Hansestädten reiche Leute als „Pfeffersäcke“, eine Anspielung auf die Geschäftsleute, die durch den Gewürzhandel reich geworden waren. Und was aßen die Armen so? „Das, was wir heute als ‚Hafenhappen‘ kennen, also Fisch auf Brot“, sagt Siebert. „Der Fisch war damals nämlich weitaus günstiger als Fleisch.“

Regionale Kulinarik als neuen Trend

Kulinarik sagt also auch etwas über Regionen aus. Und regionale Kulinarik wird zum neuen Trend. Das kann nicht nur Siebert bestätigen. Das meint auch Jürgen Thies. Der ehemalige Lehrer, der in Lüneburg ebenfalls kulinarische Stadtführungen anbietet, betont: „Die Touristen wollen Historie erleben und nicht nur Zahlen und Daten hören.“ 

Neben den Lüneburger Klassikern wie Bier, Brot und Salz interessierten sich seine Gäste vor allem für die inhabergeführten Geschäfte, den Honig und die Apfelsorten aus dem Umland, die „Lüpas“ – die Lüneburger Version der „Tapas“, die Schokoladenmanufaktur sowie für den „Heidegeist“: „Ein Schnaps, den es nur hier gibt“, erklärt Thies.

Küche von weltweiten Einflüssen geprägt

Doch nicht nur die Regionalität weist die Kochkunst in spezielle Richtungen. Die Modernisierung der Landwirtschaft, die Verbesserung der Konservierung von Lebensmitteln und die Globalisierung veränderten die Kulinarik weltweit dramatisch. Lebensmittel sind breiten Massen zugänglich geworden. Und nun können sich immer mehr Menschen auch ein wenig Exotik auf ihren Tellern leisten: Kiwis, Mangos oder Avocados findet man heute in fast jedem Supermarkt. Mittlerweile ist auch die deutsche Küche geprägt von weltweiten Einflüssen: Gewürze wie Curry, Kurkuma, Ingwer und Chilli sind aus der hiesigen Gastronomie kaum noch wegzudenken. 

Verschiedene kulinarische Highlights

Die Pommes Frites, die wir so gern verspeisen, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur von uns aus Belgien übernommen: Sie sind fester Bestandteil des englischen Nationalgerichtes „Fish ́n ́Chips“. Seit den 1980er-Jahren weiß in der Bundesrepublik jedes Kind, was ein „Döner Kebab“ ist. Und das „Sushi“ wurde in den 1990er-Jahren auch hier zum kulinarischen Highlight. Bei der Fülle an Angeboten und Rezepten kann man schon mal den Überblick verlieren. Restaurants und Feinkosthändler, von denen es zahlreiche in und um Lüneburg gibt, bieten einen Kompass im kulinarischen Garten Eden. Mit ausgewählten Produkten, Rezepten und oft auch einem ansprechenden Ambiente, eröffnen sie ihren Kunden diverse Wege zum nächsten unentdeckten Gaumenschmaus.

Lüneburg kulinarisch kennenlernen

Seit dem 1. Juli ist das „VIOLAS“ in der Grapengießerstraße 22 auch so eine Anlaufstelle für Entdecker. Hier kann man Gewürzmischungen und Delikatessen mit Einflüssen aus aller Welt erwerben und bekommt Rezepte mit auf den Weg. Inhaberin Anja Neumann bot früher eher regional ausgerichtete „Genusstouren“ durch die Salzstadt an. Alle Teilnehmer erhielten die Möglichkeit, Lüneburg kulinarisch kennenzulernen. Drei Stunden steuerten die Gruppen gemeinsam inhabergeführte Geschäfte, Restaurants, Manufakturen sowie den Wochenmarkt an und nahmen an den sechs oder sieben Stationen kleine, aber feine Verkostungen zu sich. „Diese Touren gibt es immer noch“, sagt Neumann, „nur unter anderer Leitung.“

Das Essen wertschätzen

Doch ist die Erzeugung von Genuss und regionalen Eigenheiten alles, was man über die Kulinarik wissen muss? Ganz sicher nicht. Schon lange wissen Ernährungsberater, dass die Kochkunst dabei helfen kann, Essstörungen in den Griff zu bekommen oder ihnen vorzubeugen. „Kulinarik hat auch etwas mit Wertschätzung zu tun“, erklärt Dr. Kirstin Hanak, Präventionsberaterin Ernährung bei der AOK Niedersachsen in Uelzen. „Man schätzt nicht nur das Essen wert, sondern auch sich selbst“, sagt sie. Bei Essstörungen sei diese Wertschätzung gestört: „Wir stopfen dann das Essen in uns rein. Auf die Dauer ist das ungesund, denn wir verzichten nicht nur auf die Würdigung des Essens, sondern ignorieren auch die Bedürfnisse unseres Körpers.“ 

Eigengeschmack neu kennenlernen

Sich Zeit für das Kochen zu nehmen, den Tisch hübsch zu decken, vielleicht noch eine Kerze anzuzünden und bewusst langsam zu essen sei daher ein Weg, die gestörte Wertschätzung wieder ins Lot zu bringen. Kritisch sieht die Ernährungsberaterin das Lebensmittelangebot in den Supermärkten. „Vieles Abgepackte oder in Gläsern Angebotene ist oft übersalzen oder übersüßt, tot gekocht oder mit Geschmacksverstärkern angereichert. Wer industrielle Nahrung zu häufig konsumiert, verliert den ursprünglichen Geschmack der Produkte“, sagt sie. 

Foto: nh/privat

Kulinarik hat auch etwas mit Wertschätzung zu tun. Man schätzt nicht nur das Essen wert, sondern auch sich selbst.
Dr. Kirstin Hanak, Präventionsberaterin Ernährung bei der AOK Niedersachsen

So habe Gemüse beispielsweise einen Eigengeschmack und müsse eigentlich gar nicht gesalzen werden. Viele wüssten aber gar nicht mehr, wie etwa eine Erbse frisch geerntet schmecke. Hanak empfiehlt Genussexperimente, um das Ursprüngliche des jeweiligen Lebensmittels neu zu lernen: „Einfach mal ein Stück Schokolade in die Hand nehmen, dran riechen, es langsam im Mund zerschmelzen lassen und sich dann bewusst machen, wie sich der Geschmack verändert“, empfiehlt sie.

Kulinarik ist auch Psychologie

Auch gut zu kauen sei ein Faktor, der letztendlich ein ganz anderes Hungergefühl entwickeln lasse: „Man merkt etwa, wie das Stück Brot immer süßer wird, während sich der Magen langsam füllt und das Sättigungssignal aussendet.“ Die Kulinarik könne da eine wichtige Rolle spielen: „Denn Genießer stopfen Mahlzeiten nicht in sich rein. Insofern brauchen sie nicht viel, sondern hochwertiges Essen.“ Und das sei auch schon für Menschen mit kleinem Geldbeutel erschwinglich: „Ich kann tiefgefrorenes, naturbelassenes Gemüse empfehlen, das man mit Rapsöl in der Pfanne anbrät“, sagt Hanak. „Das macht man sich auf einem nett gedeckten Tisch schön zurecht. Kulinarik ist auch immer Psychologie“, betont die Expertin.

Genießer leben gesünder

Letztendlich deswegen hat es die Kulinarik auch in die Wissenschaft geschafft. Die „Culinary Medicine“ führt Medizin, Ernährungswissenschaften, Psychologie und Kulinarik zusammen. Sie soll Patienten „Genusskompetenz“ vermitteln. In Deutschland wird die „Culinary Medicine“ seit 2021 an der Georg-August-Universität Göttingen gelehrt. So erfahren dort Studierende und Ärzte etwa in speziellen Kochkursen, wie Erkrankungen, die durch bestimmte Lebensstile verursacht werden, durch leckere, nachhaltige Ernährung sowie deren Garnierung, Anrichtung und Dekoration gelindert oder gar geheilt werden können. Dass die Ästhetik des Essens eine Rolle spielt, ist neu in dieser Wissenschaft und der Aspekt, den die Kulinarik miteinbringt. 

2006 hatten österreichische Forscher den Stein ins Rollen gebracht. Sie fanden heraus, dass das Genießen-Können auch bei der Genesung eine zentrale Rolle spielt. So gaben Menschen, die auch gern mal ein Fünf-Gänge-Menü zelebrierten, nicht nur deutlich häufiger an, Spaß am Leben zu haben als Genusszweifler. Sie verbanden mit dem Begriff „gesundes Essen“ auch deutlich häufiger frische Lebensmittel. Darüber hinaus offenbarten ihre Essgewohnheiten einen maßvollen und ausgewogen Verzehr. Das Ergebnis der Studie: Genießer leben nicht nur gesünder. Sie erfahren oft auch einen schnellen Heilungsprozess als alle anderen Erkrankten. Die „Culinary Medicine“ macht sich das jetzt zu eigen und will den Patienten zum gesunden Essen „verführen“. Kulinarik ist also auch immer eine Verführungskunst. 

Weitere interessante Artikel