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Der moralische Kompass

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Von Kerstin Völling

Ich kann mich noch gut an die 70er-Jahre erinnern. Auf vieles hatten wir „Null Bock“, auf die Schule schon mal gar nicht. Und wenn uns dann auch noch das Fach „Religion“ aufs Auge gedrückt wurde – oh, weh! Im Rückblick muss ich die Engelsgeduld der theologiestudierten Lehrkräfte bewundern, die trotz unserer Aversion gegen Geschichten über die Zehn Gebote und der Jungfräulichen Empfängnis den Dialog zu uns Pennälern suchten. Moralische Standpauken, dachten wir, hörten wir zu Haus schon zur Genüge. 

Werte und Normen

Nach und nach verabschiedeten sich immer mehr von uns innerlich von einer Welt mit Gott. So erfand man schließlich das Fach „Werte und Normen“ als Ersatz für den Religionsunterricht. „Im Fach Werte und Normen sind religionskundliche Kenntnisse, das Verständnis für die in der Gesellschaft wirksamen Wertvorstellungen und Normen und der Zugang zu philosophischen, weltanschaulichen und religiösen Fragen zu vermitteln“, hieß es damals. Und so steht es auch heute noch im Niedersächsischen Schulgesetz.

Nun wussten wir was Normen sind – mit Gesetzen, Richtlinien und Vorgaben hatte natürlich jeder erste Erfahrungen gemacht. Aber was sind Werte?

Unterschiedliche Wahrnehmung

Ehrlich gesagt, frage ich mich das heute noch. Vielleicht deshalb, weil Werte unterschiedlich wahrgenommen und individuell definiert werden und sich ständig verändern. Gerade ethisch-moralisch betrachtet scheint ein Wert immer vielschichtig und ein ambivalenter Begriff zu sein, der nicht ohne Abstraktion auskommt. Zwar ist beispielsweise das Bibel-Gebot „Du sollst nicht töten“ ein Wert an sich: der Lebensschutz. Doch unser Strafgesetzbuch kennt auch die Notwehr und die Nothilfe. 

In ganz seltenen Ausnahmen darf man töten. Ebenso wird der Schwangerschaftsabbruch unter bestimmten Voraussetzungen nicht bestraft. Wo also fängt der Schutz des Lebens an und wo hört er auf? Sind es überhaupt die christlichen Werte, nach denen wir in Deutschland leben? Und sind diese Werte in unseren Gesetzen verankert? Schon ein einziger Wert im ethisch-moralischen Sinn wirft mehr Fragen auf, als er Antworten gibt.

Werte entstehen durch Wertschätzung

Werte entstehen, wenn ein einzelner Mensch oder mehrere Personen etwas wertschätzen. Das können bestimmte menschliche Eigenschaften sein, Tiere und/oder Gegenstände. Das können aber auch Gefühle sein oder Umgangsformen oder Arbeitsabläufe. Die Intensität schafft den Stellenwert: Manche Werte sind wichtiger als andere. Auf der ethisch-moralischen Ebene nähern sich Philosophen den Werten durch „Tugenden“. Die hat es beim griechischen Philosophen Aristoteles (384 v. Chr.–322 v. Chr.) und seinem Lehrer Platon (427 v. Chr.–347 v.Chr.) schon gegeben. 

Weit vor dem Entstehen des Christentums also philosophierten kluge Köpfe über Gut und Böse, bewerteten Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäßigung, Hilfsbereitschaft, Sanftmut, Ehrlichkeit oder Höflichkeit. Diese Tugenden – das Wort „Tugend“ ist abgeleitet aus dem Begriff „Tauglichkeit“ – wurden als wertvolle Charaktereigenschaften betrachtet, die dazu geeignet sind, das sittlich Gute in der Welt erschaffen zu können. Doch wo fangen diese Tugenden an, wo hören sie auf und was ist genau das sittlich Gute?

Stellenwert der Werte

Eine generelle Antwort darauf kann es nicht geben. Welchen Stellenwert einzelne Werte für uns haben, hängt auch davon ab, was unsere Eltern uns vermitteln und in welcher Kultur wir aufwachsen. So hat im asiatischen Raum die Höflichkeit im gesellschaftlichen Umgang einen weit höheren Stellenwert als in Europa. Und sie drückt sich auch anders aus. Ein Beispiel: Der iranisch-deutsche Autor Bahmann Nirumand beschrieb einst ein Missverständnis, das sich ereignete, als er als 15-Jähriger nach Deutschland kam. Hungrig habe er am Tisch gesessen, als seine Gast-Mutter ihn endlich fragte, ob er etwas essen möchte. „Im Iran gehört es zur Höflichkeit, angebotene Speisen erst zweimal abzulehnen, um sie beim dritten Angebot mit Dank zu akzeptieren“, erklärte Nirumand während seiner Buchvorstellung „Leben mit den Deutschen“. Das Ergebnis: Der Junge aus Teheran ging an seinem ersten Abend in der neuen Heimat mit knurrendem Magen zu Bett. Denn der Gast-Mama reichte ein einziges „Nein, danke“, um zu glauben, der Weitgereiste habe keinen Appetit. So bewirtete sie ihn nicht.

Wertevorstellung unterschiedlicher Kulturen

Müssen die Wertevorstellungen in unterschiedlichen Kulturen deshalb immer zu Missverständnissen führen? Nein! Und das ist die erste Lektion, die ich in den 70er-Jahren aus unserem neuen Schulfach mitnahm. Als wir den „Mythos von Sisyphos“ von Albert Camus analysieren mussten, fühlte ich mich zum ersten Mal so etwas wie „erleuchtet“: Wie konnte es sein, dass ein längst verstorbener Mann aus der Kriegsgeneration, geboren auf einem anderen Kontinent in einem islamisch geprägten Land und aus ärmlichen Verhältnissen stammend, das Leben exakt genauso sah wie ich, das unbedarfte, pubertierende und weichgepamperte Wohlstandskind aus der niedersächsischen Provinz? Irgendwo musste es einen unsichtbaren Codex geben!

Globale Werte

Die Psychologen Shalom H. Schwartz und Wolfgang Bilsky stellten sich in den 1980er-Jahren die Frage, ob es so etwas gibt wie „globale Werte“, die für alle Menschen gelten. Sie fanden zumindest Gemeinsamkeiten, die sie in einer Definition zusammenfassten:

„Werte sind (a) Konzepte oder Überzeugungen, die sich (b) auf wünschenswerte Zielzustände beziehen, (c) situationsübergreifend sind, (d) die Wahl und Bewertung von Verhalten und Ereignissen leiten und (e) im Hinblick auf ihre relative Bedeutung geordnet sind. Sie sind kognitive Repräsentationen individueller (biologischer) Bedürfnisse (Motive), interaktiver Erfordernisse für die Abstimmung interpersonalen Verhaltens und gesellschaftlicher Erfordernisse für die Sicherung sozialen Wohlergehens und Überlebens.“ Dieser Definition nach spielen Bedürfnisse der Menschen, der menschliche Austausch untereinander und die Erhaltung eines sozialen Umfeldes zur Überlebenssicherung auch eine entscheidende Rolle in der Entstehung von Werten. 

Schwartz erläuterte als Beispiele: „Sexuelle Bedürfnisse können in Werte wie Intimität oder Liebe übersetzt werden, Bedürfnisse des wechselseitigen Austauschs von Interaktion in Werte wie Gleichberechtigung oder Ehrlichkeit und die Forderung nach dem Wohlergehen und Überleben der Gruppe in Werte wie nationale Sicherheit oder Weltfrieden.“ Schwartz ermittelte zudem zehn individuelle „Wertetypen“, die auf der ganzen Welt leben: Angefangen bei jenen, die einen hohen sozialen Status erstreben bis hin zu den Abenteurern, die vor allem viel erleben wollen. Dabei definieren diese „Typen“ Werte wie Freiheit, Macht oder Gleichheit individuell sehr unterschiedlich und ordnen sie auch sehr unterschiedlich ein. Aber können diese „Wertetypen“ dann nach den gleichen Normen leben? Oder können unsere Normen sogar einen Schutz der Diversität der Werte bieten?

Grundrechte, keine Grundwerte

Die Antwort ist ein klares „Jein“. Natürlich ist unsere Verfassung – das Grundgesetz (GG) – auch ein Ergebnis von Werten. Aber es hat schon seinen Grund, warum im ersten GG-Kapitel von „Grundrechten“ die Rede ist und nicht von „Grundwerten“. Der dominierende Wert in unserer Verfassung ist die Würde des Menschen (Artikel I, Absatz 1). Nur sie ist unantastbar. Ein Mensch darf niemals zu einem reinen Objekt reduziert werden, weder vom Staat, noch von einem anderen Menschen. Es gilt ein absolutes Folterverbot. Und zwar für jeden. Auch die schlimmsten Verbrecher dürfen nicht – egal von wem – geteert und gefedert durchs Dorf gejagt werden. Nicht immer aber steht von vornherein fest, was die Menschenwürde noch umfasst. Das haben wir etwa in der Diskussion um die Hartz IV-Sätze und Sanktionen erfahren: Wie viele materielle Dinge sind für ein menschenwürdiges Leben notwendig? Das bleibt weiterhin undefiniert, auch, weil sich die Lebensbedingungen ständig verändern. Genau hier stoßen Normen an ihre Grenzen.

Einschränkung von Grundrechten

Trotz ihrer wagen Definition steht die Menschenwürde jedoch im Mittelpunkt des grundgesetzlichen Wertesystems. Alle anderen Bestimmungen sind Ausfluss dieser Menschenwürde. Aber alle anderen Grundrechte dürfen sehr wohl auch eingeschränkt werden. Wenn also die Gegner von Corona-Verordnungen glauben, Artikel 2 GG garantiere ihnen die absolute Freiheit, so ist das schlichtweg falsch. In die persönliche Freiheit darf auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden. Inwieweit, muss notfalls ein Gericht entscheiden. Der Stellenwert der verankerten Werte wird also ständig überprüft und abgewogen. 

Werte in der Politik

Ganz heiß diskutiert wurde während der Corona-Pandemie über das Auswahlverfahren „Triage“ (vom französischen „trier“: sortieren, aussuchen), in dem entschieden werden sollte, wer bei zu dünner Personaldecke auf den Intensivstationen am Beatmungsgerät überleben darf und wer nicht. Eine gesetzliche Regelung dazu fehlt bis heute in Deutschland. Denn das Grundgesetz schließt die Abwägung „Leben gegen Leben – welches ist wertvoller?“ durch die absolut geschützte Würde eines jeden Einzelnen aus. Ein normativ unlösbarer Widerspruch. Hier also scheitert die Transformation von Werten in Normen. 

Schwierig in der Umsetzbarkeit ist auch die „werteorientierte Außenpolitik“, die Außenministerin Annalena Baerbock bei ihrem Amtsantritt propagierte. Schon mit dem Begriff allein unterstellt sie ihren Vorgängern indirekt, sich in der Außenpolitik nicht an Werten orientiert zu haben. Für Hans-Dietrich Genscher beispielsweise, dem der Interessensausgleich zwischen den Staaten in seinem Amt fast zehn Jahre lang nachweislich ein wichtiger Wert war, kann das wohl kaum gelten. Die Frage ist also vielmehr, welche Werte die Ministerin ihrerseits favorisiert. Wenn sie neben dem Klimaschutz, dem Feminismus und den Menschenrechten auch die Einhaltung des Völkerrechts benennt, dann stellt sich die Frage, warum sie sich nicht dafür einsetzt, die Türkei mit den gleichen Sanktionen zu belegen wie Russland. 

Denn auch die Türkei ist völkerrechtswidrig in ein anderes Land (Irak) eingedrungen und hat dort Angehörige eines anderen Volkes, nämlich die Kurden, getötet, darunter auch YPG-Kämpfer, die kurze Zeit zuvor den Amerikanern noch geholfen hatten, den „Islamischen Staat“ zurückzudrängen. Und inwieweit ist eine deutsche Außenministerin tatsächlich dazu befugt, in anderen Ländern Feminismus einzufordern, wenn in ihrem eigenen Land laut Statistischem Bundesamt der unbereinigte Gender-Pay-Gap immer noch bei rund 18 Prozent liegt? Wie sieht es denn jetzt mit dem Klimaschutz aus? Obwohl Annalena Baerbock erst kürzlich die „Klimakrise als größtes Sicherheitsproblem“ benannt hat, bezeichnet sie den nun beschlossenen, späteren Kohleausstieg gleichzeitig als „Preis für Solidarität mit der Ukraine.“

Jeder hat einen moralischen Kompass

Die Gewichtung ihrer Werte hat sich also verschoben: Solidarität geht jetzt vor Klimaschutz. Der Begriff „Werte“ bleibt damit schwammig. Nicht nur sein Inhalt, auch seine Gewichtung wandelt sich und kann auch nur bedingt in Normen Bestand haben. Welche Rolle können Werte dann überhaupt spielen? Werte schaffen in jedem Individuum einen moralischen Kompass. Auch wenn der sich wandelt, ist er doch eine tragende Säule im Zusammenleben mit anderen Menschen. Denn ohne Werte gibt es auch keinen Wertewandel. Wie würde die deutsche Gesellschaft beispielsweise aussehen, wenn Frauen heutzutage immer noch ihre Gatten um Erlaubnis fragen müssten, wenn sie eine Arbeitsstelle annehmen wollten? Oder sich Vergewaltigungen in der Ehe gefallen lassen müssten? Was wäre unsere Gesellschaft wert, wenn Homosexuelle heute immer noch kriminalisiert und Kinder von ihren Lehrern gezüchtigt werden würden? Der moralische Kompass in uns gibt also erst den Anstoß für ein besseres Leben – und damit auch ein besseres Zusammenleben. Genau das leisten Werte, ganz unabhängig ihrer Ambivalenz, Abstraktheit und Wandelbarkeit.

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