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Miteinander teilen

von Cécile Amend
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Für die Leipzigerin Karin Demming sind Wahlfamilien eine zukünftige Notwendigkeit. „Das Arbeitsleben wird immer anspruchsvoller. Gleichzeitig steigen die Preise stark und Wohnraum wird knapp. Gut leben werden deshalb bald nur noch Menschen, die sich auf ein solides soziales Netzwerk verlassen können“, sagt sie. Heutzutage lebten Eltern und Verwandte oft weit verstreut, so dass die Kinderbetreuung, zu der etwa Oma und Opa in früheren Zeiten deutlich beigetragen hätten, nicht mehr funktioniere. „Zum demografischen Wandel kommt auch eine Vereinzelung in unserer Gesellschaft“, beobachtet Demming. Das, so die 61-Jährige, habe sie auch in ihren früheren Berufen in der Altenpflege und in der Immobilienwirtschaft erfahren. „Die Politik hat sich auf den demografischen Wandel nicht vorbereitet. Schon länger fehlen Heimplätze und Pflegestellen.“ Dabei sei die „Baby-Boomer“- Generation noch nicht einmal in Rente, aber eben in ein paar Jahren. „Der Wunsch nach Wahlfamilien ist in den letzten beiden Dekaden auch deshalb zunehmend gewachsen“, stellt Demming fest.
Zusammen mit Mary-Anne Kockel und Christoph Wieseke entstand aus diesem Grund 2015 die Internet-Plattform „www.bring-together.de“. 2018 ging die erste Matching-Version an den Start. Das Portal bietet Usern die Möglichkeit, bundesweit passende Lebensgemeinschaften zu finden. Projekte und Suchende legen ein eigenes Profil von sich an. Die jeweiligen Angaben werden gewertet und gewichtet und daraus werden den Profilen oder Projekten Matchingvorschläge angezeigt.

Darüber hinaus bietet www.bring-together.de den direkten Kontakt zu Anbietern von Gutshöfen, Villen, Häusern und Örtlichkeiten, in oder auf denen sich Wunschfamilien ihren Traum von einem Zusammenleben verwirklichen können. Nach Angaben von Demming verfügt das Portal derzeit über 38 000 User aus 46 verschiedenen Ländern, hauptsächlich aus der Schweiz, Österreich und Deutschland. Tendenz: rasant steigend. Auch Lüneburger haben sich schon eingeloggt.
Interessant: Auf der Seite ist auch eine Befragung des Institutes für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT) aus dem Jahr 2019 veröffentlicht. Die Ergebnisse untermauern Demmings Aussagen zu Wahlfamilien. 1004 Potsdamer wurden damals zu ihrem Interesse am gemeinschaftlichen Wohnen befragt. 44 Prozent der Befragten konnten sich vorstellen, jetzt oder in Zukunft gemeinschaftlich zu wohnen. Besonders die 40- bis 49-Jährigen hatten ein großes Interesse daran. „Der Altersdurchschnitt deckt sich auch mit der Mehrheit unserer User“, sagt Demming. „Etwas geringer ist das Interesse bei den über 65-Jährigen, aber dieser Trend scheint sich jetzt gerade zu ändern. Der älteste Nutzer ist über 80.“ Diese Altersgruppe sei aber eher eine Rarität.

Verlässliche und stabile Wohnkosten waren 2019 die Hauptgründe für die Suche nach Wahlfamilien, fast gleichauf mit gegenseitiger Unterstützung bei kurzfristiger Krankheit und der Schulterung von Alltagsaufgaben. Dann erst sollten Freundschaften innerhalb von Hausgemeinschaften gefunden werden. Intensive Kontakte in der Hausgemeinschaft und auch die selbstverantwortliche, demokratische Organisation des Zusammenlebens waren dabei für die Teilnehmer der Befragung von besonderer Bedeutung. Doch die Befragten monierten auch fehlende Grundstücke und Immobilien zur Realisierung ihrer Wünsche sowie fehlende Projekte, denen man sich anschließen konnte. Sie vermissten Informationen, aber auch Mitstreiter und eine zentrale Anlaufstelle. „Dieses Defizit wollen wir mit unserem Portal mindern“, sagt Demming. „Wir sind ein reines Matching-Portal, über das Projekte und Suchende selbst aktiv werden können, und kein Vermittlungsbüro“, betont sie. „Die unterschiedlichen Akteure können über die Plattform miteinander in Kontakt treten.“
Auch in Lüneburg interessieren sich immer mehr Menschen für das gemeinschaftliche Wohnen. Um dem Thema auf die Spur zu kommen, besuchte die PRISE den monatlichen Stammtisch des Vereins „Mehr Leben – Wohnprojekte Lüneburg“, der sich bereits 2004 gegründet hat, und unter dessen Dach 2015 das erste generationsübergreifende Lüneburger Mehrgenerationenprojekt „LeNa“ an den Start ging. Er versteht sich als regionales Forum für Gruppen und Initiativen, die ein Wohnprojekt planen oder schon bezogen haben. 15 derartige Projekte gibt es mittlerweile in Stadt und Landkreis. Immer am ersten Montag im Monat findet der Stammtisch im Foyer der VHS statt. Vor Ort stehen Ute Platz-Cassens vom Verein Mehr Leben und Susanne Puschmann, die Leiterin des Kooperationspartners Wohnprojektekontor, für Gespräche zur Verfügung. „Wir bieten die Gelegenheit, sich dem Thema zu nähern, Gleichgesinnte zur Planung eines Projekts zu finden oder, wenn eine Initiative schon weiter ist, auch noch weitere Verbündete mit ins Boot zu holen“, sagt Ute Platz-Cassens.

Beim Stammtisch traf die PRISE Jonas Heinelt, der mit seiner Tochter Lovis und seiner Freundin Lara im Projekt „Raeume“ in Rettmer lebt, ein ehemaliger Bauernhof, der dem Freiburger „Mietshäuser Syndikat“ angegliedert ist. 150 Wohnprojekte sind bundesweit unter diesem Dach vernetzt. Auf dem „Raeume“-Hof leben fast 50 Menschen zusammen und nach gemeinsamen Werten wie Solidarität, Anti-Rassismus, Ökologie und dem Streben, dem kapitalistischen Markt Wohnraum zu entziehen, um langfristig für niederigere Mieten zu sorgen. Dem „Mietshäuser Syndikat“ verbundene Projekte verpflichten sich, ihren Wohnraum niemals in Eigentum umzuwandeln. „Wir sind unsere eigenen Vermieter:innen“, sagt Jonas Heinelt, „die politischen Ideale hier haben uns gefallen.“ 2021 ist er mit Lara und Lovis aus einer Wohnung am Kreidebergsee in die Raeume umgesiedelt, „um Sachen zu teilen und den Horizont der Kleinfamilie zu sprengen“. „Wir wünschten uns viele weitere Bezugspersonen für Lovis, Kinder, aber auch Erwachsene“, erklärt ihr Vater. Die eigenen Großeltern sind engagiert, wohnen aber bei Hannover und Hamburg und können nicht mal eben kurz vorbeikommen.
Haben sich die Erwartungen erfüllt? Seine Utopie vom gemeinschaftlichen Zusammenleben sei durchaus romantisiert gewesen, gesteht Jonas Heinelt ein. Zwar habe er gesagt bekommen, in so einem Projekt würde viel Arbeit auf ihn zukommen. „Ich konnte mir das vorstellen, aber nicht, wie viel Arbeit das in der Realität tatsächlich ist.“ Zu diversen Themen wird mit allen pleniert und es gibt verschiedene Arbeitsgruppen. Bei so vielen unterschiedlichen Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen bleiben auch Konflikte nicht aus. „Und das sind alles politische Leute hier“, so Heinelt, „aber alle teilen das Interesse, das Miteinander möglich zu machen.“ Und wenn keine Lösung gefunden wird, greift der Konfliktfahrplan: Wenn zwei nicht klar kommen, kommt ein Dritter hinzu, dann die Gruppe, dann ein Supervisor und schließlich fällt ein Gremium einen Schiedsspruch. „Wenn alles nicht klappt, muss einer ausziehen, aber dazu ist es, seit wir hier sind, noch nicht gekommen. Klar gibt es auch mal Frust, das ist aber angesichts dessen, was ich gewinne, vernachlässigbar. Es ist viel Arbeit, zahlt sich aber aus. Wir sind im Großen und Ganzen happy hier.“

Noch in der Planung steckt das Wohnprojekt von Claus Schlüter, dem die PRISE ebenfalls beim Mehr-Leben-Stammtisch begegnete. Kein Mehrgenerationen-, sondern ein 50-plus-Konzept. „Alt werden ist nichts für Feiglinge“, weiß Schlüter, der, wie er sagt, immer schon ein Gemeinschaftsmensch war. Ihm ist wichtig, im Alter nicht allein zu sein und Aufgaben mit anderen zu teilen. Schon zu Zeiten, als das Mehrgenerationenhaus „LeNa“ an den Start ging, kam in der Doppelkopfrunde mit seinen Freunden die Idee auf, den Lebensabend zusammen zu verbringen. Sie warben noch weitere Gleichgesinnte an, und Schlüter überzeugte auch seine Nachbarin, einzusteigen. Neben ihrem Doppelhaus in Adendorf sollen ein weiteres Doppelhaus und zusätzlich ein Einfamilienhaus mit Einliegerwohnung entstehen – insgesamt 11 Wohneinheiten und ein Gemeinschaftsraum mit abtrennbarem Gästezimmer. Dieser soll zunächst zum Kochen, Spielen, Darten und Billardspielen genutzt werden. Später könnte dort eine Pflegekraft einziehen. „So könnten wir uns gemeinsam leisten, was einer allein nicht schultern kann, und im Alter länger in den eigenen vier Wänden wohnen“, sagt Claus Schlüter. Auch Carsharing und gemeinsames Einkaufen sind geplant. Mit Regenwassergewinnung, Wärmepumpe und Solar wird die Technik unabhängig von Gas und Öl konstruiert werden. Einige Details müssen noch mit der Gemeinde abgestimmt werden. „Wir sind positiv eingestellt, 2023 mit dem Bau zu beginnen“, so Schlüter, „damit wären wir das erste Wohnprojekt in Adendorf.“

Foto: nh/tonwert21.de
Jonas Heinelt, Bewohner im Projekt „Raeume“ in Rettmer
Foto: nh/tonwert21.de
Zwei Paare und sieben Singles hat Claus Schlüter schon in seinem 50-plus-Projekt vereint. Zwei Einheiten sind noch frei. Wer sich für das Adendorfer Vorhaben interessiert, kann sich gerne per Mail an Schlüter wenden:

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