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Salz in Lüneburg

von Julia Drewes
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Im Januar 2021 erschien der wohl bislang bunteste Artikel der PRISE-Geschichte. Das Motto zum Jahresauftakt lautete damals „Glück“, dazu porträtierte meine Kollegin Melanie Jepsen in ihrem Stück „Salz in Tokio“ die gebürtige Lüneburgerin Anji Salz, die zehn Jahre zuvor ihren Job als Fluggerätemechanikerin bei Airbus in Hamburg aufgegeben hatte, um sich in der Hauptstadt Japans als Kimono-Designerin zu verwirklichen.

„Salz in Lüneburg“ muss es konsequenterweise jetzt im Oktober 2022 heißen, denn die 34-Jährige war mit Mann und Tochter gerade zweineinhalb Monate auf Familienbesuch in der Salzstadt. Wie passend! Während ihrer Stippvisite in der Redaktion wurde nicht nur ein ausuferndes Blaubeerpicknick veranstaltet und der Bürostuhl für ihre Kleine zum Karussell umfunktioniert. Wir konnten Anji Salz (Instagram: @salztokyo) auch direkt für ein spontanes Interview einspannen.

Erzähl mal, wie geht es dir und deiner kleinen Familie in Tokio?

Anji Salz: Uns geht es super! Meine Tochter ist ja jetzt seit fast zwei Jahren bei uns und wir sind zu dritt sehr happy, haben seither auch keine Langeweile mehr (lacht). Nein, im Ernst, wir sind bestens zusammengewachsen, aber Mama und Papa zu sein, nimmt auch sehr viel Zeit in Anspruch, da leidet mein Business aktuell drunter. Ich designe zwar noch nebenbei, würde aber gerne generell das Geschäft weiter ausbauen und wieder aktiver Kimono tragen. Nicht nur, weil das Loch im Geldbeutel immer größer wird, auch weil mir der Ausgleich etwas fehlt.

Hast du einen Plan, wann Du wieder durchstarten willst, oder  meinst du, das wird eher im Reißverschlussverfahren passieren?

Ich denke Letzteres. Vielleicht kann ich hier und da demnächst mal wieder Ideen zu Papier bringen. So viel Zeit bleibt aber gar nicht, im Februar soll nämlich das neue Geschwisterchen zur Welt kommen.

Was verschlägt euch diesen Sommer nach Lüneburg?

Meine Kleine ist ja vor fast zwei Jahren mitten in der Pandemie geboren, und dadurch gab es bislang keine Gelegenheit für sie, ihre deutsche Familie kennenzulernen. Die Zeit vergeht so schnell und sie wächst und wächst. Mir war es wichtig, dass meine Eltern und Verwandten sie endlich treffen. Ich nutze die Zeit auch, um ein bisschen Heimat zu tanken. Ein paar Kleinigkeiten muss ich unbedingt noch einkaufen, damit ich sie mitnehmen kann. Süßigkeiten beispielsweise (lacht).

Wie haltet ihr sonst den Kontakt?

Durch Dienste wie Whatsapp oder dem japanischen Pendant „Line“, mit denen das Telefonieren per Video möglich ist, läuft das problemlos. Meine Oma rufe ich meist ganz klassisch an. Wir sind da aber alle relativ entspannt, haben alle viel zu tun und müssen nicht unbedingt täglich miteinander sprechen oder schreiben. Aber uns allen ist es wichtig, zu wissen, dass es dem oder der anderen gut geht.

Worin besteht für dich der Wert im Konzept Familienleben?

Eigentlich genau darin – also zu wissen, dass jemand da ist, auch wenn er oder sie nicht physisch anwesend ist. Ich habe mir schon immer vorgestellt, einen Partner zu finden, den ich liebe, mit dem ich alles teilen und durch dick und dünn gehen kann. Jemand, der mir Halt gibt. Den habe ich gefunden. Mir war schnell klar, dass ein Kind dazugehören wird irgendwann, etwas „Eigenes“ von mir und meinem Mann, ein kleines Wunder. Das wollte ich eigentlich schon mit 25 erledigt haben (lacht). Aber dann brauchte ich doch noch mehr Zeit. Inzwischen ist die Kleine bei uns, und es ist ein großartiges Gefühl, die Liebe, die wir uns aufgebaut haben, die Geborgenheit und das Gefühl von Sicherheit an sie weitergeben zu können.

Welchen Stellenwert hat denn das Konzept „Familie“ in der japanischen Gesellschaft?

Das ist genauso unterschiedlich wie hier, viele Faktoren nehmen da Einfluss. Welcher Generation du angehörst beispiesweise. Grundsätzlich ist es aber wichtig zu wissen, dass gegenseitiger Respekt und Rücksichtnahme eine zentrale Rolle spielen in der japanischen Kultur. Und das zeigt sich natürlich auch im familiären Bereich – umso mehr, je traditioneller die Familie aufgestellt ist.

Das habe ich schon oft über den japanischen Berufsalltag gehört.

Ja genau. Gerade den traditionsbewussteren Menschen ist der Job so etwas wie eine zweite Familie, eine Wahlfamilie, wenn man so will. Das zeigt sich insbesondere im Respekt, den man Vorgesetzten entgegenbringt. Erstens entscheidet man sich – meist nach der Uni – dafür, bei welchem Arbeitgeber man für den Rest des Lebens bleibt. Zweitens gehört es sich wie zu Hause auch im Job nicht, den Vorgesetzten gegenüber Widerworte zu haben. Der Austausch ist insgesamt geschlossener, die Ranghöheren treffen Entscheidungen und die anderen führen meistens aus, ohne zu hinterfragen. Jüngere Firmen hingegen fangen an, offener zu kommunizieren.

Ein kurioses und auch heute noch recht populäres Phänomen sind die Trinkabende mit den Arbeitskollegen. Die Japaner nennen das „Nominication“: Das setzt sich zusammen aus dem japanischen Wort „nomu“ für „trinken“ und dem englischen „communication“, also Kommunikation. Die Idee dahinter ist, diese Abende zu nutzen, um die Gemeinschaft zu stärken, im angetrunkenen Zustand vielleicht auch mal ehrlich zu sagen, wo eventuell der Schuh drückt oder einfach offener miteinander umzugehen, weil ansonsten alles eher steif, gesittet und streng hierarchisch aufgebaut ist. Und die Teilnahme ist dann auch Pflicht und der Rausch gewollt. Beim Trinken spricht man einfach lockerer. Was dort passiert, bleibt dann auch dort. Hier gibt es aber seit der Pandemie einen Umschwung, da man ja nicht mehr trinken gehen konnte. Natürlich kommt es auch auf die Firmen an. Bei kleineren, westlich geprägten Unternehmen gibt es das nicht so.

Aber das Wochenende gehört dann der Familie?

Nicht unbedingt. Dazu muss man zunächst sagen, dass die Arbeitsmoral in Japan sich deutlich von der westlichen unterscheidet. Das heißt, viele arbeiten auch am Samstag und Sonntag viel, also Tagen, die wir als Wochenende kennen. Arbeit ist Stress und Arbeit dauert lange. Die meisten Büroleute haben aber samstags und sonntags frei. Ansonsten nutzt man die freie Zeit so wie hier für sich persönlich oder, wenn man Familie hat, um Zeit mit ihr zu verbringen.

Was sind denn so klassische Feste, wo alle zusammenkommen?

Der Geburtstag ist es in der Familie meines Mannes schon mal nicht (lacht), sie feiert ihn nicht wirklich. Wobei das inzwischen etwas mehr wird, die jüngeren Generationen feiern Geburtstage meist schon mit Freunden oder dem Partner. Da nimmt der globale Westen durchaus Einfluss. Grundsätzlich spielt die Familie auch in Japan eine große Rolle. Es gibt bestimmte Tage in Japan, die ganz traditionell mit der Verwandschaft zelebriert werden. Dazu zählt die Ehrung verstorbener Familienmitglieder. Bei uns kommen dann einige zusammen: meine Schwiegereltern und deren Geschwister und die dazugehörigen Kinder. Dann geht man zum Grab, bringt neue Blumen mit und pflegt die Grabstätte, stellt Räucherstäbchen auf usw. Und später isst man zusammen.

Ein mit dem westlichen Weihnachten vergleichbares Fest ist der Jahreswechsel, also Neujahr. Das wird auch traditionell mit der Familie gefeiert. Man sitzt und isst zusammen, ziemlich wahrscheinlich Soba-Nudeln, das hat Tradition. Und man schaut eine traditionelle Musikshow im Fernsehen, die nur an diesem Tag läuft.

Stichwort Weihnachten, wie sieht es damit aus?

Japan ist ja keine christliche Nation, wir kennen den Buddhismus und Shintō. Das bedeutet, dass Weihnachten eigentlich nicht gefeiert wird, aber auch da passt die Gesellschaft sich langsam dem globalen Westen an. Kommerziell ist es megamäßig aufgezogen – einen Tag nach Halloween werden die Deko und die Musik in Shops auf Weihnachten umgestellt.

Und ihr drei?

Auf jeden Fall (lacht)! Für mich ist Weihnachten sehr wichtig! Ich liebe die warme und gemütliche Atmosphäre. Die Entschleunigung und Besinnlichkeit. Ich habe mir sogar einen kleinen Baum im Blumentopf zugelegt, den ich schmücken kann (lacht). Ich möchte meiner Tochter diesen Teil meiner Kultur, der auch immer das Ende des Jahres einleitet, mitgeben. Wir kochen dann etwas Festliches und sitzen gemütlich zusammen. Manchmal laden wir Freunde ein. Ein paar kleine Geschenke gibt es auch, aber das passiert nur am Rande.

Unser Heftmotto ist „Wahlfamilie“. Sport und Subkultur spielen hier ja eine wichtige Rolle. Wie ist das bei euch?

Da fällt mir sofort die Cosplay-Subkultur ein, die ist sehr verbreitet, und da geht es von jüngeren Generationen durchaus auch bis in ältere Jahrgänge. Die Menschen tragen in dieser Szene ihre Leidenschaft für Anime und Manga nach außen, kostümieren sich aufwendig wie Charaktere aus Heften und Serien. Das fällt im Alltag natürlich total auf – wahrscheinlich liegt genau darin auch der Mehrwert der Community. Man ist in der Szene nicht alleine, Gleichgesinnte gucken nicht komisch.

Und dann gibt es natürlich noch das Phänomen K-Pop, also koreanische Pop-Musik – das ist eine Schippe spezieller und extremer als Musik-Subkultur, wie wir sie im Westen kennen, finde ich. Ich nehme es auch so wahr, dass die jeweiligen Bands stellenweise religiös verehrt werden.

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