Mit behutsamen Schritten nähert sich Alexander Schmidt der Weide, hakt in einer sachten Geste den Eingang des Elektrozaunes aus. Hoch konzentriert, den Blick auf die Herde gerichtet, deutet er uns, ihm zu folgen. Wie ist die Stimmung? Wo stehen die Bullen? Wo befindet sich die Chefin? Schon von weitem haben die Hereford-Rinder ihn erkannt und sich in unsere Richtung bewegt. Jetzt kommen sie noch näher, einige zurückhaltend, manche forsch, aber alle mit neugierigen Blicken. „Simba“, ruft Schmidt und als der Bulle auf ihn zu trottet, greift er nach seinem Hals und tätschelt ihn liebevoll. „Das ist unser Maskottchen, ein Findelkind, der ist schon fünf und darf hier leben, bis er umfällt.“ PRISE-Fotograf Andreas Tamme und ich bewegen uns vorsichtig zwischen den mächtigen Bullen, den virilen Jungrindern und verspielten Kälbern. „Nicht vor den Kopf stellen“, warnt uns der Landwirt, „immer von der Seite auf das Tier zugehen.“ Tamme ist schon ganz in seiner Arbeit versunken, dirigiert Alexander Schmidt ins richtige Licht, während ich Zeit habe, die Tiere auf mich wirken zu lassen. So auf Tuchfühlung mit den massiven Rindern wird mir, obwohl entschiedene Tierfreundin, dann doch beklommen. Und ich lasse mich von Schmidt von der Weide begleiten, um mir das Fotoshooting aus sicherer Entfernung hinter dem Zaun anzuschauen.
Alexander Schmidt hat eine Vision – und geht deswegen nicht zum Arzt, wie sein Namensvetter, Politiker Helmut Schmidt empfiehlt, sondern rollt die Hemdsärmel hoch und arbeitet. Der aus Thüringen stammende ehemalige Veranstaltungstechniker, der in seinem früheren Leben Boxkämpfe von Henry Maske und Axel Schulz akustisch in Szene setzte, und mit seinem Messebauunternehmen um die ganze Welt reiste, betreibt in Bienenbüttel eine Nutztierhaltung, in der das Wohl der Tiere im Mittelpunkt steht – vom ersten Atemzug bis hin zum Tod, der nicht nach einem für die Tiere grauenhaften Transport im Schlachthof stattfindet, sondern so stresslos irgend möglich auf der heimischen Weide. „Schlachtung im Herkunftsbetrieb“, heißt das seit September 2021 im niedersächsischen Gesetzwesen. Tiere, die ihm jahrelang ans Herz gewachsen sind, selbst zu töten, bedeutet das für Alexander Schmidt. Er ist ein Pionier. „Ich möchte einen weißen Streifen auf der Erde hinterlassen“, so beschreibt der Familienmensch seinen Antrieb, „etwas Bleibendes, aber nicht Zerstörerisches.“
Zusammen mit dem Bruder
Am Anfang seines neuen Lebens stand er Wunsch nach einem wirklich guten Steak. Wenn er von Amerikareisen zurückkehrte, fand Alexander Schmidt, der mittlerweile mit seiner Partnerin Kerstin in Varendorf eine neue Heimat gefunden hatte, den Geschmack deutschen Fleisches vergleichsweise fade. Schon länger an Themen wie Kulinarik, Nachhaltigkeit, Landwirtschaft interessiert – Kerstin Schmidt ist studierte Agronomin – spielte ihm das Angebot in die Karten, in Varendorf einen landwirtschaftlichen Betrieb zu übernehmen. Nach langem Hin und Her, denn Kerstin, die in einem Milchwirtschaftsbetrieb praktiziert hatte, wusste: Tiere bedeuten 365 Tage Arbeit im Jahr, war die Entscheidung gefallen, die Gelegenheit im Team mit seinem Bruder Thomas zu nutzen. Deal.
Auf der Mission, das Geheimnis eines perfekten Steaks zu ergründen, reisten die Brüder nach New York, wo sie die außergewöhnliche Chance erhielten, sich mit dem berühmtesten Steakfleischproduzenten der Stadt auszutauschen, den Koryphäen Sam Solasz und seinem Sohn Mark, die in der Bronx das Unternehmen Master Purveyors leiten, das sämtliche Steakhäuser Big Apples beliefert und in deren Reifekammer Fleisch für mehrere Millionen Dollar lagert. Sie nahmen wertvolle Erfahrungen über die Gründermentalität der Vereinigten Staaten mit, stellten aber zwei Jahre und sechs Rinder später fest, dass das perfekte Steak nicht in der Reifekammer entsteht, sondern auf saftigen Weiden. Mit der Kraftfuttermästung der angesehenen Experten von Übersee waren die Schmidts nicht d‘accord. „Suchen Sie Ihren eigenen Weg“, diesen Rat hatte Steakmaster Sam Solasz den Schmidts mit auf den Weg gegeben.
Ein Rinderrücken reift nicht ohne eine bestimmte Fettabdeckung, er trocknet aus. Wie können wir den Fettanteil erhöhen, ohne zu mästen?, war die Frage, die die Gebrüder Schmidt und die Familie in den Monaten nach New York umtrieb. Die Lösung: ein energiereicher Futtermix aus Kartoffeln, Kleegras, Grassamen, Heu und Heulage. Und vor allem: Zeit. Lebenszeit – von Tier und Landwirt. Auf den grünen Wiesen des Heiderinder-Hof verbringt jedes Rind mindestens 36 Monate vor der Schlachtung. Und zwar glücklich. Hereford-Rinder sind höchst soziale Tiere. Sie leben am liebsten ganzjährig draußen im Familienverband. Untersuchungen belegen, dass sich die Kälber am besten entwickeln, wenn sie an der Seite ihrer Mütter aufwachsen. Mutterkuhhaltung ist obligat auf der „Heiderinder“-Farm. Eine extensive Zufütterung von Mais oder anderen Kraftfuttersorten erfolgt nicht. „Es ist eine Freude, mit anzusehen, wie die Kälber von ihren Müttern umsorgt werden, wie sie sich langsam in kleinen ‚Kindergartengruppen‘ abnabeln und auf Erkundungstour gehen“, sagt Alexander Schmidt. Erst mit ca. acht Monaten, dem Einsetzen der Geschlechtsreife, müssen sie die Herde verlassen.
Kein Start-up ohne Rückschritt. Zunächst ließ Alexander Schmidt die Landwirtschaft neben seinem Hauptjob laufen. Das ging ein Dreivierteljahr gut, bis sein Körper den drei Stunden Schlaf nächtlich, um die Tiere versorgen und trotzdem täglich ins Ruhrgebiet zu seiner Messebaufirma reisen zu können, den Dienst quittierte. Nach einem Aufenthalt auf der Intensivstation des Herz- und Gefäßzentrums Bad Bevensen und einem ernsten Wort der Ärzte dann der Entschluss, sich einzig auf den Aufbau der Heiderinder-Landwirtschaft zu konzentrieren. Zeit.
„Ja, wo sind denn meine Schweine?“ Auf dem Weg zur Weide der Berkshire-Schweine schnalzt Alexander Schmidt kräftig. „Artus, komm mal bitte!“ Vergnügt grunzend kommt die Rotte angelaufen, rennt ihn fast um. Blitzende Augen, beeindruckend schöne lange Wimpern. Der Landwirt geht in die Hocke. Im Nu drängen sich drei Berkshires gegen seine Knie. „Mini, nicht meine Schuhe anknabbern. Artus, nicht so rubbeln, ich bin keine Eiche!“ Gruppenkuscheln mit dem Lieblingsmenschen. Schweine sind das neueste Projekt auf dem Heiderinder-Hof. Artus und sechs Sauen, alle das erste Mal von ihm belegt (trächtig). Ab Oktober kommen die neuen Ferkel. Und denen wird es so gut ergehen wie den Herford-Rindern.
Das Vertrauen der Tiere ist der Schlüssel.
Um das zu erreichen, hat sich Alexander Schmidt überwunden, selbst den „Befähigungsnachweis zur Schlachtung“ zu erlangen: „Damit das Tier nicht eine fremde, sondern die gewohnte Person um sich hat.“ Im Schlachthoff hat er gelernt, wie er nicht mit seinen Tieren umgehen will, und sich wieder einen „Guru“ gesucht. Learning from the best. Die Suche der Brüder Schmidt nach einer Möglichkeit, Tiertransporte zu vermeiden, führte zu Ernst-Hermann Maier, der mit seiner „mobilen Schlachtbox“ den entscheidenden Baustein für die Tötung der Tiere in der gewohnten Umgebung geliefert hat und die ersten Schlachtungen von Alexander Schmidt mit wertvollen Tipps fürs Leben begleitete. „Der Stress eines Tieres beginnt bereits kurz nach der Geburt“, sagt Schmidt. Schuld trügen gesetzliche Vorschriften wie beispielseise die Kennzeichnungspflicht mit Ohrmarken binnen der ersten sieben Lebenstage. Andere Landwirte fahren dazu den frisch geborenen Kälbern mit dem Auto hinterher oder nutzen Lassos. Schmidt setzt auf die Kraft der positiven Verstärkung. Er geht in der Herde spazieren, bis das Kalb neben ihm steht, er es während der Markierung in seinem Arm beruhigen kann und danach nicht entlässt, bevor die Mutter sich dem Kalb wieder zugewandt und sich der Herzschlag des Babys signifikant beruhigt hat.
Zeit und Ruhe sind Schmidts wertvollste Komponenten, um die Kälber von Beginn an auf die Weideschlachtung vorzubereiten. Diese erfolgt in einem Fanggitter, vor dem die Tiere ungewöhnt einen Horror haben. Um ihnen die Angst zu nehmen, wird das Gitter bei jedem Weidewechsel aufgebaut. Sie gehen durch das Gitter – und erleben eine Belohnung: eine grüne Wiese. Vor der Schlachtung bekommen sie in eben jenem Gitter noch einen Sack Kartoffeln zu fressen. „Dann warten wir, bis sich das Tier beruhigt hat, ich streichel‘ es noch einmal, erst dann setze ich den Bolzenschuss. Die anderen Tiere stehen herum, sind im Kontakt, sehen, och, da ist einer umgefallen. Aber damit ist das Thema für sie erledigt. Wenn kein Blut auf die Weide sickert. Rinder können kein Blut riechen. Wenn wir das Blut ordnungsgemäß aufnehmen, haben die anderen Tiere keinen Stress“, sagt Schmidt.
Das klingt alles so unaufgeregt. Aber im Gespräch wird deutlich, wie sehr es dem Landwirt an die Nieren geht, die eigenen Tiere zu töten. 160 Tiere leben auf dem Heiderinder-Hof, rund 30 schlachtet das Team im Jahr. „Am Tag vor der Schlachtung bin ich hochkonzentriert, in einem meditativen Zustand, damit die Tiere meine Anspannung nicht spüren. Am Abend dieser Tage bin ich aber auch besonders leer“, so Alexander Schmidt. Ihm helfen dabei die Erinnerung an seine Ausbildung im Schlachthof, „bevor das mit meinen Tieren passiert, mache ich es lieber selbst“, und die Überzeugung, das Richtige zu tun: „Landwirte hierzulande werden immer mehr in die Unternehmerrolle gedrängt. Wir produzieren nur so viele Tiere, wie wir auch selbst verarbeiten können. Wobei ich den Hof nicht nur aus Tierliebe betreibe. Wir sind Nutztierhalter und Vermarkter – so empathisch wie möglich und auf Augenhöhe mit den Tieren.“ Die Weideschlachtung, geboren aus dem steigenden Bewusstsein der Verbraucher um das Tierwohl, sei noch ganz am Anfang. 13 Betriebe sind niedersachsenweit bislang dafür zugelassen, dieser eine im Landkreis Uelzen und einer davon im Landkreis Lüneburg. „Es braucht Zeit und Ausbildungsmöglichkeiten. Die Strukturen müssen wachsen. Und es braucht mutige Landwirte, die sich dieser Aufgabe stellen.“