Familie. Für die einen ist das eine Lebensgemeinschaft bestehend aus Vater, Mutter und Kind. Für die anderen sind das viele Generationen unter einem Dach. Und wieder welche verstehen darunter gleichgeschlechtliche Paare, die sich gemeinsam als Eltern um den Nachwuchs kümmern. Was auch immer jeder Einzelne mit diesem so bedeutungsträchtigen Begriff verbindet, eins ist allen gemeinsam: Familie sind Menschen, die Verantwortung füreinander übernehmen – und das können Außenstehende mitunter besser als das eigene Fleisch und Blut. Florian Wassmann hat dies am eigenen Leib erfahren.
Meine Mutter war drogen- und alkoholabhängig, meinen Vater habe ich gar nicht kennengelernt. Ich kam zu Pflegeeltern und das war wohl auch besser so.Florian Wassmann
Im Alter von zwei Jahren ist der heute 20-Jährige in die Obhut des Jugendamtes gekommen: „Meine Mutter war drogen- und alkoholabhängig, meinen Vater habe ich gar nicht kennengelernt. Ich kam zu Pflegeeltern“, erzählt er, „und das war wohl auch besser so.“ Zunächst lebte er in einer sogenannten Kleinkinderfamilie nahe seinem Heimatort im Randbezirk von Hannover, „wo auch meine Schwester schon war“. Die ist nur wenig älter als er und ihm gut vertraut. „Wie viele Halbgeschwister ich zudem noch habe, ist mir hingegen gar nicht bekannt“, sagt Florian Wassmann, sechs bis acht müssten es wohl sein.
Einige davon hat er kennengelernt, andere nicht – so wirklich wichtig ist ihm das nicht. „Mit meiner Schwester bin ich dann im Alter von vier Jahren nach Bavendorf gekommen, in ein großes Haus mit vielen Kindern.“ Ein Segen für den Heranwachsenden. „Ich habe in der Zeit ganz normal die Schule besucht“, sagt er, „war erst in Barendorf, dann in Dahlenburg und bin ansonsten wahrscheinlich so ähnlich aufgewachsen wie andere in ihren Familien auch.“ Mit einigen kleinen Unterschieden.
„Das Leben war doch manchmal etwas anstrengend“, meint er rückblickend, „dann, wenn die älteren Kinder gegangen sind und die kleineren kamen.“ Besonders in den jungen Jahren habe er Schwierigkeiten gehabt, sich damit zurechtzufinden. Im Laufe der Zeit habe er sich an den Umstand aber gewöhnt: „Das ist so, als wenn jemand zu Besuch kommt und dann einfach für immer bleibt.“
Geblieben ist auch er – 17 Jahre lang. Das gab Sicherheit und Stabilität. Und am Ende auch genügend Selbstvertrauen, auf den eigenen Beinen stehen zu können. „Ich hätte schon im Alter von 18 Jahren ausziehen können“, sagt er, „und eine eigene Wohnung nehmen dürfen.“ Dazu fühlte er sich aber noch nicht reif genug. Der betreute Alltag, die regelmäßigen Mahlzeiten, das warme Essen auf dem Tisch, die gewaschene Wäsche im Schrank: Es ist nicht einfach, das aufzugeben.
„Ich habe dann noch einige Zeit in einer Einrichtung in Lüneburg gewohnt“, berichtet er, „und mich vorbereitet auf das Leben allein.“ Mittels eines Stufenplans seien die jungen Erwachsenen dort auf die unabhängige Zukunft vorbereitet worden: „Während wir in Bavendorf lediglich lockere Regeln hatten, lernte ich nun ganz gezielt, Aufgaben zu erfüllen.“ Bad putzen oder einkaufen, wischen oder staubsaugen: Für erledigte Aufträge gab es Vergünstigungen wie Internetnutzung oder Playstation. Das hat geholfen.
Mittlerweile lebt der 20-Jährige allein, in einer kleinen Wohnung in der Stadt. Eine Ausbildung zum Veranstaltungstechniker hat er abgebrochen, das passte nicht, jetzt lernt er Fachkraft im Tiefbau. Und das gefällt ihm gut. Zu seinen Pflegeeltern hat er noch immer sehr guten Kontakt – ganz im Gegensatz zu seiner leiblichen Mutter: „Als ich ganz klein war, hatten wir uns noch einmal im Monat getroffen“, erzählt er, „das hat dann aber nachgelassen.“
Mit seiner Schwester habe er später wiederholt versucht, die Beziehung zu halten. „Als wir anlässlich eines Hilfeplangesprächs mit dem Jugendamt nahe Hannover waren, hatten wir sie sogar besucht.“ Das Haus gefunden klingelten die Geschwister an der Tür. „Aber keiner hat aufgemacht. Wir haben es dann aufgegeben“, erklärt er, und ein wenig Wehmut schwingt in seiner Stimme mit.
17 Jahre lang in einer Pflegefamilie
Das ändert sich, sobald er von Bavendorf spricht, von Kenny zu Beispiel, dem leiblichen Sohn seiner Pflegeeltern, die stets bemüht waren, inmitten all der Kinder den eigenen Nachwuchs nicht zu vernachlässigen: „Der ist für mich heute mein richtiger Bruder“, sagt Florian Wassmann, „wir kennen uns schon so lange, er ist nur wenige Wochen jünger als ich – und die Chemie hat einfach gepasst.“
Oder von seinen Erziehungsberechtigten, bei und mit denen er 17 Jahre lang gelebt hat, und die er als seine Eltern betrachtet: „Besonders mit meinem Vater habe ich sehr viel gemacht“, erzählt er, „er hat mich zu den Pfadfindern gebracht, ist mit mir und meinem Bruder in den Urlaub nach Norwegen gefahren und hat sich auch sonst sehr viel um mich gekümmert.“ Natürlich hätte es Situationen gegeben, in denen nicht immer alles gepasst hat, es zum Streit gekommen ist: „Aber das passiert in anderen Familien ja auch“, sagt er.
Und wenn er seinen Pflegeeltern in seiner Wut dann mal an den Kopf geworfen habe, dass sie ja gar nicht seine leiblichen seien, ihm nichts zu sagen hätten, tat es ihm nachher immer leid. „Dann bin ich auf mein Zimmer gegangen, habe mich beruhigt und dann entschuldigt.“ Wohl hat er sich in Bavendorf fast immer gefühlt, und deshalb zieht er eine durchaus positive Bilanz: „Auch wenn mich meine Mutter nicht wollte, und ich meinen Vater gar nicht erst kennengelernt habe: Ich hatte ganz bestimmt keine schlechte Kindheit.“