Die Assistenzhündin Linda hat aus Jannes Günther einen mutigeren und offeneneren Menschen gemacht. Wenn Jannes Günther sich an seine erste Begegnung mit Linda erinnert, beginnen seine grünen Augen zu leuchten, ein Strahlen zieht über sein Gesicht und ufert schließlich in einem fröhlichen Glucksen. „Das war super aufregend, nach dem langen Warten habe ich mich natürlich riesig gefreut“, sagt der heute 19-Jährige, „vor allem, weil ich bis dahin ja nie etwas mit Hunden zu tun hatte.“ Damals war Jannes acht und seine Familie und er hatten monatelang auf diesen einen Moment hingefiebert. Viele Hoffnungen lagen auf der Golden-Labrador-Retriever-Welpin. Die Aussicht, sie möge den Alltag des Jungen erleichtern, der einen Rollstuhl zur Fortbewegung nutzt, ihm zu mehr Unabhängigkeit und Selbstständigkeit verhelfen. Und vor allem der Wunsch, sie möge ihm seelisch eine Unterstützung sein. Die Hoffnung der Günthers wurde nicht enttäuscht. Die Servicehündin Linda hat aus Jannes einen anderen, mutigeren und offeneren Menschen gemacht.
Jannes Günther kommt mit einer Fehlbildung auf die Welt: Spina bifida, im Sprachgebrauch „offener Rücken“ genannt. Die Fehlbildung entsteht durch einen fehlenden Verschluss von Rückenmark und Wirbelbögen zu einem noch frühen Zeitpunkt der Schwangerschaft. Der Säugling muss direkt nach der Geburt operiert werden, der Rücken wird verschlossen, um eine Infektion und weitere Nervenschädigungen zu vermeiden, die schon im Mutterleib eingetreten sind. Bei derartigen Operationen werden einzelne Nervenstränge geschädigt, erklärt Jannes mir. Und je nach Stärke der Schäden folgen daraus spätere Einschränkungen für die Betroffenen. Bei ihm sind es Lähmungen der Beine, er muss, wie viele Patienten, einen Rollstuhl zur Fortbewegung nutzen – den ersten bekommt er mit drei Jahren. Eine zusätzliche Besonderheit bei Spina-bifida-Kindern ist die Verlagerung des Kleinhirns und von Hirnstammteilen. Diese Auffälligkeit begünstigt den Aufstau von Hirnwasser, was zur Erweiterung der Hirnkammern führt. Die Folge ist ein Hydrocephalus, ein so genannter „Wasserkopf“. Mit acht Monaten folgt die Operation des Hydrocephalus, Jannes bekommt einen sogenannten Shunt implantiert, um das überschüssige Liquor abzuleiten und somit Hirnschädigungen zu vermeiden.
Seine Kindheit verläuft trotz der Einschränkungen relativ normal
Wenn nicht sogar etwas außergewöhnlicher als die der Gleichaltrigen. Grundschule im Wohnort Ashausen, einem Ortsteil von Stelle, dann zur weiterführenden Schule, die Integrierte Gesamtschule Winsen-Roydorf. In der Freizeit: Sport. Viel Sport. Und erfolgreicher Sport. Jannes spielte mehrere Jahre Rollstuhlbasketball, zunächst in der Landes-, später in der Oberliga und ist heute im Rennrollstuhlfahren aktiv, fährt Rennen über 100, 200, 400, 800 und 1500 Meter. Kassiert Medaillen. 2019 beispielsweise bei der Junioren-WM eine Silber- und drei Bronzemedaillen. Der junge Mann aus Ashausen gehört heute in seiner Altersklasse U20 zu den schnellsten deutschen Sprintern. Doch trotz auch schon früherer sportlicher Bestleistungen bleibt Jannes zunächst ein eher scheues und unsicheres Kind – zur Sorge seiner Eltern, die immer auf der Suche nach Verbesserungen für den Familienalltag sind.
Von der Existenz von Assistenzhunden erfahren sie das erste Mal 2010 beim Besuch der Messe Rehacare in Düsseldorf. Schon dort sagt ihr älterer Sohn Timon: „Das wär doch was für Jannes.“ Kurz darauf sehen Manja und Marc Günther bei „Pur+“, einem Entdeckermagazin des TV-Senders KIKA, einen Bericht über einen Jungen, der von einem Assistenzhund begleitet wird. In der Sendung schildern dessen Eltern, dass es ihrem Jungen, schüchtern und zurückhaltend wie Jannes, um sehr vieles besser ging, seit er den tierischen Helfer hat. Er sei förmlich aufgeblüht. Von da an überlegen die Günthers nicht mehr lange. Ein Assistenzhund für Jannes muss her. Recherchen ergeben, dass solche Begleiter anders als Blindenhunde nicht von der Krankenkasse finanziert werden. Das Argument: Bei Blinden ersetzt der Hund einen der Sinne. Dies tun Assistenzhunde nicht, erklärt mir Jannes, um sich zu behelfen, könne er auch eine Greifzange nehmen. Der seelische Aspekt wird außer acht gelassen.
Doch auf den Hund zu kommen, ist in diesem Fall ein sehr weiter Weg. Auf der Rehacare-Messe hatte die Familie den Verein Vita-Assistenzhunde aus Frankfurt kennengelernt, der Menschen mit Behinderungen einen Helfer auf vier Pfoten zur Seite stellt. Sie bewirbt sich. Dort ist die Warteliste ewig lang, wer auf ihr schneller nach oben rutschen will, muss sich vor Ort ehrenamtlich engagieren. Kaum zu stemmen die zusätzlichen Wege, sind die Günthers doch mit den Fahrten zu den Sportstätten ihres Sohnes und im Allgemeinen sowieso schon extrem eingebunden. Die sogenannte Einschulungszeit, in der Hund und Mensch zusammengebracht werden, dauert satte sechs Wochen. Ein weiterer wichtiger Aspekt: Der Hund bleibt zeitlebens im Besitz des Vereins. Rahmenbedingungen, mit denen die Günthers nicht gut zurechtkommen.
Sie suchen und finden eine Alternative
Den Verein Apporte Assistenzhunde für Menschen im Rollstuhl e.V.. Er hat zum Ziel, Assistenzhunde mittels Spenden zu finanzieren, um die Arbeit mit ihnen in Deutschland bekannter zu machen und so noch mehr Unterstützer zu finden. Der Verein initiiert Spendenaktionen im Elbe-Geest-Wochenblatt, dem Winsener Anzeiger und bei Radio Hamburg („Hörer helfen Kindern“), durch die Zeitungsbeiträge kommen 4000 Euro, bei der Radioaktion 10 000 Euro zusammen, um das Geld für einen Assistenzhund für die Familie aufzubringen. Der Grundstein ist gelegt.
Apporte vermittelt den Günthers auch den Kontakt zum Verein Partner-Hunde im österreichischen Nussdorf, der Assistenzhunde nicht nur für körperlich Behinderte, sondern auch für Gehörlose und Menschen mit Diabetes, Epilepsie, Autismus, Entwicklungsverzögerungen und Posttraumatischer Belastungsstörung ausbildet. Apporte kooperiert ausschließlich mit dieser Hundeschule, da die Ausbildung dort sehr gut ist und den internationalen Standards entspricht (akkreditiert durch Assistant Dogs International-ADI). Die Wartezeit beträgt auch hier einige Monate, aber es gibt keine Warteliste in dem Sinne. Die Einschulungszeit dauert zwei Wochen. Die Günthers müssen sich nicht weiter engagieren (mittlerweile tun sie es freiwillig, Manja Günther ist heute erste Vorsitzende des Vereins Apporte). Und der Hund wechselt mit der Ausbildungszeit zu seinem neuen Besitzer.
Die Familie reist zum Kennenlerngespäch nach Österreich. „Dort wurde abgeklopft, ob wir in der Lage sind, einen Hund zu halten. Das Hundewohl liegt hier im Fokus, dass der Hund nicht als Hilfsmittel, sondern als eigenes Familienmitglied betrachtet wird“, erläutert Manja Günther. Die Familie muss nachweisen, dass sie ein umzäuntes Grundstück hat, dass Nachbarn oder Freunde bereit sind, dann und wann auf den Hund aufzupassen, Marc Günther braucht eine Bescheinigung seines Arbeitgebers, dass der Hund auch im Büro willkommen ist. Anschließend wird ein Charakterprofil von Jannes erstellt. Verschiedene Personen, die ihn kennen, füllen dazu einen Fragebogen aus, etwa seine Physiotherapeutin und Mütter von Freunden, damit die Experten von Partner-Hunde einen Hund auswählen können, der ihm im Wesen ähnlich ist. Es soll passen.
Dann beginnt das große Warten
Nach Monaten der erlösende Anruf: „Ihr könnte zur Einschulung kommen.“ Mit zwei weiteren Einschulungsteams erfolgt die Zusammenführung mit den jeweiligen Hunden. Jannes gibt Linda ein paar Hundekekse, streichelt sie – Volltreffer. „Es hat gleich gefunkt“, erinnert sich der junge Mann. Es folgt eine gleichermaßen anstrengende wie schöne Zeit für die Familie. „Denn der Hund war schon fertig, aber wir mussten noch ausgebildet werden.“ Während der zwei Wochen in Österreich lernen die drei alles über die Hundehaltung: Von morgens bis abends Vorträge, Spaziergänge, Trainings, in denen es hauptsächlich darum geht, die Bindung zwischen Jannes und Linda aufzubauen und zu festigen. Erst nach theoretischer und praktischer Abschlussprüfung darf Linda mit nach Hause
Der Hund war schon fertig, aber wir mussten noch ausgebildet werden..Jannes Günther
Im Garten in Ashausen demonstriert uns Jannes, wie eng die Verbindung der beiden ist und wie toll das Zusammenspiel funktioniert. Als der Fotograf sein Equipment auspackt und mit dem Aufheller, einer großen runden Stoffscheibe, herumhantiert, interessiert Linda das herzlich wenig, anders als Hunde sonst, die sich häufig davor erschrecken. Sie zu bewegen, zur Kamera zu gucken – auch eher schwierig. Sie reagiert einfach nicht, wenn der Fotograf ruft, liegt neben dem Rollstuhl, den Blick und alle Aufmerksamkeit unverwandt auf Herrchen gerichtet. „Das soll so. Sie wurde darauf trainiert, sich nicht ablenken zu lassen. Das ist Teil der Ausbildung“, macht uns Jannes klar. „Camilla“, ruft er dann. Linda springt sofort auf. „Get it!“ (Englisch für „Nimm es“), sagt Jannes und zeigt auf seinen Ärmel. Linda nimmt das Ärmelbündchen in ihr Maul. „Tug! Tug! Tug! Tug! Tug!“ („Zieh“). Und schwupps, hat Linda ihm die Jacke halb ausgezogen. Jetzt noch die andere Seite. Aber Moment mal, wieso denn jetzt Camilla? Der Hund heißt doch Linda. „‘Camilla‘ ist ihr Dienstname, wenn sie den Namen hört, weiß sie, dass sie im Dienst ist, wenn ich ‚frei‘ sage, dass er vorbei ist“, erklärt Jannes. Ansonsten heißt sie Linda. „Damit sie nicht immer sofort reagiert, wenn wir über sie reden.“ Camilla öffnet für Jannes Türen, hilft ihm beim Ausziehen, reicht ihm Dinge an, hebt herunter Gefallenes vom Boden auf. Linda macht ihn einfach glücklich. Selbstständiger und selbstbewusster sei er geworden, spiegelt ihm sein Umfeld. „Ich wurde von anderen im Dorf nicht mehr als der Rollstuhlfahrer wahrgenommen, sondern als der Junge mit dem Hund, der so coole Tricks drauf hat.“