B aby Spice Vivi und Sporty Spice Paul sind die Köpfe hinter dem queeren Popmusik-Projekt FLIRT aus Hamburg. Kennengelernt haben sich die aus Scharnebeck stammende Vivi und der Herforder Paul im Studium. Und dann ging es schnell: Nach neun Monaten war die erste Single samt Musikvideo geboren, nur vier weitere Wochen später erschien im April 2019 das erste, stark an der Ästhetik der 80er-Jahre orientierte Album „Tristesse“. Gerade ist mit „Planet FLIRT“ der Nachfolger erschienen und da geht es weit fröhlicher zu, leuchtender und tanzbarer. „Als würde Lady Gaga die Scissor Sisters treffen. Bei einer auschweifenden Poolparty und alle knutschen rum“ – so beschreibt sich die Band selbst. Die PRISE hat Vivi und Paul zum Gespräch getroffen.
Sound und Optik von „Planet FLIRT“ fühlen sich an wie eine Zeitreise in die 90-er Jahre inklusive jeder Menge Dance-Beats, Neon und Hubba-Bubba-Kaugummiblasen. Ist das eine Assoziation, mit der Ihr euch anfreunden könnt?
Vivi: Wir sind riesige Popmusik-Fans und das lässt sich mit diesem Album auch nicht verheimlichen. Wir haben uns für „Planet FLIRT“ von den Fragen leiten lassen „Was kann dieses Genre alles? In welche Ecken können wir gehen“. Paul und ich mögen Sounds, die möglicherweise ungewohnt klingen und wir haben keine Angst davor, sie auch einzusetzen. Alles ein bisschen funny und frech eben, wir treiben Dinge gerne auf die Spitze. Und ja, dazu orientieren wir uns an Sounds der späten 90er- und früher 2000er-Jahre. Die Spice Girls sind da beispielsweise eine große Inspirationsquelle.
Und mit „Planet FLIRT“ habt Ihr euch ein Refugium geschaffen? Was genau macht den Planeten lebenswert?
Paul: Genau, wir haben uns für das Album die Frage gestellt, wo und mit wem wären wir außerhalb des beschwerten Hier und Jetzt gerne zusammen? Entstanden ist sozusagen die Konstruktion eines queeren Paradieses.
Vivi: Es ist ein Ort bzw. eine Welt, in der nicht jeder Mensch konsequent gestresst und nah am Burn-Out ist. Uns ist natürlich klar, dass wir Teil dieses Systems sind. Aber es ist eben eine Flucht-Fantasie, die sich für uns perfekt anfühlt. Unser Utopia, das nicht von kapitalistischen Grundsätzen und Heteronormativität bestimmt ist.
Also ist es ein politischer Planet? Ist eure Kunst politisch?
Paul: Auf jeden Fall, es hat ja letztlich alles eine politische Dimension. So, wie „Planet FLIRT“, ist Kunst für mich im Allgemeinen ein geschützer Raum, in dem man alles Mögliche ausprobieren kann. Mit FLIRT als Band kann ich mich entdecken, das habe ich in dem Maße abseits von Kunst noch nirgends erlebt. Das hat reale Auswirkungen auf mein eigenes Leben und es kann auch auf andere Personen Einfluss nehmen, sodass bei ihnen etwas entsteht oder losgetreten wird: Inspiration finden und auch neue Seiten an sich entdecken, vielleicht.
Vivi: Ich würde auch sagen, dass unsere Kunst das ist, mit dem wir unsere Queerness am deutlichsten ausdrücken. „Queer“ bedeutet ja etwas, das die herrschende Normalität im Bereich von Geschlecht und Sexualität unterläuft. Nicht allen wird es gefallen, wie wir uns auf der Bühne präsentieren und den Körper bewegen. Vielen werden wir zu „over the top“ sein – zu viel Makeup, zu schrill, zu anstregend. Aber genau darum geht es uns: Grenzen überwinden. Auf „Planet FLIRT“ sind all diese Sachen in Ordnung. Da fragt niemand nach oder urteilt, er ist ein Schutzraum für alle.
Paul: Für mich hat die Gründung dieser Band eine riesige Veränderung in meinem Leben ausgelöst. Ich habe mir darüber Gedanken gemacht, wie die Leute – sei es jetzt näheres oder entferntes Umfeld – reagieren, wenn sie mich da im Full Face Make-up und diesen Klamotten sehen. Vor allem Menschen, die mich so nicht kennen. Ich würde sagen, dass ich meine Queerness mit der Band erst entdeckt habe. Anfangs habe ich gesagt, dass ich nur eine Rolle spiele. Aber mir wurde schnell klar, dass die Figur, die ich verkörpere, mit meiner Privatperson in direkter Verbindung steht. Daraus entstand einerseits ein Gefühl von Befreiung, andererseits eine Angst vor schmerzhaften Reaktionen. Wie sich aber gezeigt hat, war diese Sorge grundlos. Auch außerhalb unserer eigenen queeren Blase
Wie nähert Ihr euch dem inhaltlich?
Vivi: Unser grundsätzliches Ziel ist es ja, gut verdauliche Musik zu produzieren. Das heißt, wir selbst wünschen uns eine unbeschwerte Zeit und das Gleiche wollen wir auch für diejenigen erzeugen, die uns hören. Einen moralischen Zeigefinger gibt es also nicht. Aber unsere Message ist meiner Meinung nach trotzdem deutlich und durchweg greifbar. Im Song „Tipsy, Sweaty, Sexy“ geht es beispielsweise um eine Party, die alle Gäste gleich genießen dürfen – also ohne im Hinterkopf haben zu müssen, man könnte möglicherweise aufgrund der Klamotten sexualisiert oder aus welchen Gründen auch immer angegriffen werden. Das ist für viele Menschen aber leider immer noch kein selbstverständlicher Zustand, im Gegenteil, ein Großteil der Gesellschaft sieht sich permanent mit übergriffigem Verhalten konfrontiert.
Paul: Es gibt leider diese Momente, wo einem der Gedanke nicht aus dem Kopf geht, besonders aufmerksam und vorsichtig sein zu müssen, sein Umfeld besser genau zu beobachten. Die ideale Party, die wir hier beschreiben, ist ein Ort, wo allen Bersucher:innen klar ist, dass man nicht glotzt, nicht grabscht und gegenseitigen Respekt mitbringt. Ohne, dass das Album also als klassisches Konzeptalbum angelegt war, ist unser Konzept in allen Bereichen so präsent, dass ein roter Faden entstanden ist: in den Songs, in ihrem Aufbau und deren Inhalt bis hin zur visuellen Umsetzung mit Make-up und Outfits.
Welche Rolle spielt dabei Ästhetik?
Paul: Eine entscheidende! Und zwar von Anfang an. Man kann sagen: Der Ursprung der Band IST Ästhetik. Nur kurze Zeit nachdem wir uns kennenlernten, zeigte mir Vivi das Musikvideo „Der Erdbeermund“ bzw. „Cherry Lips“ von der Band Culture Beat. Mich hat das, was ich da gesehen habe, sofort gekriegt, denn für mich wurde die Musik durch die theatralische Optik nochmal auf ein ganz anderes Level gehoben. Ab dem Punkt war klar, dass wir so etwas zusammen machen werden.
Vivi: Mein Herz schlägt sehr für Musikvideos. Ich habe früher permanent vor der Glotze gehangen und MTV und VIVA verschlungen.

Also geht nichts ohne visuelle Ebene?
Paul: Kein Stück! Von Anfang an war klar, dass unser Styling und Medien wie Fotos und Videos essentiell sein werden. Mindestens die Hälfte des Ausdrucks funktioniert über das Bild, das wir erzeugen.
Vivi: Das Musikvideo ist einfach so ein geiles Medium! Es ist kein Film, aber auch nicht nur Musik. Es funktioniert nach ganz eigenen Regeln. Du öffnest mit deiner Musik ja ohnehin schon eine Welt und das Video kann das großartig visuell unterfüttern. Lady Gaga ist ein gutes Beispiel, ihre Videos sind für das Musikfernsehen aber stark gekürzt. Die Originalversionen hingegen sind oft um die neun Minuten lang und das auf der Basis von wunderbaren Storylines. Sowas zieht mich einfach total an. Ehrlich gesagt fällt mir in der Popmusik auch keine Band ein, die Musik veröffentlicht, ohne sie zu bebildern. Selbst, wenn es nur ein Reel ist, mit dem die Single via Social Media promotet wird – ohne Bilder geht es heute nicht mehr.
An anderer Stelle ist zu lesen, dass Ihr mit dem Gesamtkunstwerk FLIRT die deutsche Popwelt aufmischen möchtet. Warum ist das notwendig?
Paul: Wenn man einmal der Frage nachgeht, auf wie viele Leute sich die Musik verteilt, die im Radio läuft, stößt man auf einen elitären Popkreis. Es gibt ja aber nicht nur weiße Männer, die Musik hören oder machen möchten.
Vivi: Ja, die deutsche Poplandschaft ist aus unserer Perspektive schwer verkrustet. Sowohl vom Sound her als auch thematisch bräuchte das alles dringend eine Kur. In diesem Zusammenhang lohnt es sich auch, wie Paul sagt, mal einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Die meisten schreiben ihre Songs ja heutzutage nicht mehr selbst. Und dann entdeckt man schnell, dass hinter vielen Musiker:Innen dieselben Autoren und Produzenten stecken. Da gendere ich übrigens bewusst nicht, denn wir reden hier tatsächlich von einem großen Männerverein, der selbst den wenigen weiblichen Künstlerinnen Songs auf den Leib schneidert. Und im Ergebnis klingt dann vieles zwangsläufig ähnlich, nämlich konservativ. Wir finden, da darf es mal Gegengewichte geben und vor allem so etwas wie ein Modell für andere queere Kunstschaffende, die vielleicht noch nicht so den Mut haben, sich zu entfalten, wie wir.
Wir sehen uns sicher nicht als das Aushängeschild von Diversität in der Poplandschaft, schließlich sind wir immerhin auch weiße Leute. Aber soundmäßig und visuell hauen wir auf den Putz. Wenn die Kunst schon als Raum verstanden wird, in dem man sich erfinden kann, dann macht man das doch auch! Wir zumindest haben extrem Bock drauf, alles auf die Spitze zu treiben.
Ist das in der Großstadt einfacher?
Paul: Nicht unbedingt. Gerade für dieses Album haben Vivi und ich uns für ein paar Tage aufs Land verkrochen, um aus der Ruhe mal neue Impulse zu generieren. Kreative Energie kann überall enstehen, denke ich. Aber im weiteren Prozess der Kunstschaffung kommt es für uns zwei in erster Linie darauf an, mit Menschen zusammen zu arbeiten, die ein ähnliches Mindset haben. Auch wenn wir das Meiste selbst erledigen, setzen wir in gewissen Dingen, die unsere Produktion betreffen, auf eine Zusammenarbeit mit anderen kreativen Köpfen. Und in der Großstadt ist diese Community sehr wahrscheinlich größer, was hauptsächlich mit besseren Strukturen zusammenhängt.
Vivi: Genau, auf den Putz hauen können wir eigentlich überall. Aber funktionierende Strukturen sind entscheidend. Das merke ich übrigens nicht nur, wenn es um die Band geht, sondern erst recht, wenn ich mich ein Mal pro Jahr mit Bus und Bahn von Hamburg auf den Weg mache zu meinem Zahnarzt in Brietlingen …
