Vor einem weißen Blatt beziehungsweise Bildschirm zu sitzen, um Texte zu fabrizieren, bin ich als Redakteurin gewohnt. Das macht mir in der Regel keine Schwierigkeiten. Eine ganz andere Nummer ist es für mich, vor einer weißen Leinwand zu stehen, um darauf ein Bild zu malen. Eine Situation, die mich zwar schon seit jeher reizt, der ich mich alleine aber vermutlich nicht ausgesetzt hätte. Glücklicherweise bietet mir meine Arbeit für die PRISE gelegentlich Gelegenheiten, Neues auszuprobieren. Und glücklicherweise gibt es in Lüneburg Menschen wie den freischaffenden Künstler Igor Frank, die blutigen Anfängern und ambitionierten Hobbymalern in Kursen unter die Arme greifen. Als ich ihm im Atelier seines Kunstraumes in der Kefersteinstraße leicht verschwitzt und extrem aufgeregt eröffne, dass ich noch nie in meinem Leben eine solche Leinwand bepinselt habe, versteht Igor Dank seiner pädagogischen Fähigkeiten, die er sich im Laufe der Jahre angeeignet hat, mich in Sekundenschnelle zu beruhigen: „Ich stelle hier überhaupt keine Bedingungen. Du kannst doch einen Kugelschreiber festhalten. Das genügt.“ Puh.
Zeichenkurs im Kunstraum-Frank
Jeden Dienstag läuft im Kunstraum-Frank der Malkurs für Anfänger und Fortgeschrittene. Hier lernen die Teilnehmer unterschiedliche Zeichentechniken kennen und können verschiedene Techniken ausprobieren mit Wasser-, Aquarell- oder Acrylfarben. In einfachen Übungen werden die Grundlagen von Sachdarstellungen, Bildaufbau, Perspektive und Farblehre vermittelt. Auch Töpfern ist im Angebot. Fortgeschrittene werden in der Umsetzung ihrer Ideen individuell begleitet. So war der Kursus eigentlich mal gedacht. Aber Anfängerinnen wie mich, gibt es tatsächlich nur eine. Alle anderen Teilnehmerinnen sind schon mehrere Monate bis Jahre dabei, zehn Jahre weist die treueste „Frankophile“ auf. „Es ist immer ein bisschen Kommen und Gehen, aber die meisten bleiben länger“, sagt Igor. Darüber hinaus gibt der in Kasachstan geborene Spätaussiedler Kurse für hiesige Kinder und für geflüchtete Waisenkinder aus der ukrainischen Stadt Bila Zerkwa, unterstützt von der Evangelischen Familienbildungsstelle Fabs, die die Materialkosten übernimmt. Nach einer Fortbildung in Hannover zur künstlerischen Arbeit mit kriegstraumatisierten Kindern, hatte Igor bereits 2015 in seinem Atelier Zeichenkurse für junge Menschen aus Kriegsregionen angeboten. „Die Kunst kann ein Weg sein, die traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten“, ist er überzeugt.
Der richtige Einfall
Eine Idee sollte ich mitbringen, ein Foto zum Abmalen. Enthusiastisch ziehe ich ein Bild eines Gebäudes, das ich sehr mag, aus meiner Tasche. Igors Blick spricht Bände. Ihm ist offenbar daran gelegen, dass der Abend für mich mit zumindest einem kleinen Erfolgserlebnis endet. Diese Möglichkeit sieht er augenscheinlich gerade schwinden. „Hmm, da hast Du Dir was Schwieriges ausgesucht“, hebt er vorsichtig an, willens, auch das mit mir durchzustehen, „drei Fluchtpunkte sind für Anfänger etwas komplex …“ Igor erklärt mir irgendetwas von optischen Verkürzungen, den Abständen zum Bilderrahmen und Fibonacci-Zahlen. Ich verstehe nur Bahnhof, bin aber sowieso schon auf der Suche nach einem anderen Foto in meinem Handy, denn das scheint mir doch etwas zu groß. Schlagen Sie bei Wikipedia „Fibonacci-Zahlen“ nach, Sie werden verstehen, warum ich Ihnen das hier jetzt nicht erklären kann. Sie haben jedenfalls etwas mit dem goldenen Schnitt zu tun, der idealen Bildkomposition. Wir einigen uns auf ein Bild von meinem Kater Janis. „Porträts sind viel mehr einfacher“, freut sich Igor. Im Atelier wird gelacht. Die Damen schmunzeln über seine sprachliche Eigenheit ein „viel mehr“ vor ein gesteigertes Adjektiv zu stellen.
Aus Kinderschuhen
Andrea Harms hat als Kind gerne gemalt und später immer mal wieder den Wunsch verspürt, sich mit Öl- oder Acrylfarben auszuprobieren. „Aber ich habe mich nicht getraut und keine Zeit“, so die Lüneburgerin. Bei einem VHS-Kursus lernt sie eine von Igors Teilnehmerinnen kennen – und geht mit. Seit vier Jahren lässt sie sich nun von ihm unterstützen. Zunächst malt sie Fotos ab. Heute arbeitet sie freier, beispielsweise einen Leuchtturm in einer Ölsardinendose. Ein kreatives Souvenir aus dem Portugalurlaub.
Zukunftsmusik für mich. Ich soll mir zunächst einmal Janis Anatomie genau ansehen, körperliche Details und ihn mit dem Bleistift auf ein Blatt Papier bringen.„Bildaufbau auf Papier ist erstmal viel mehr besser als Leinwand. Du kannst radieren, probieren, zerreißen – und dann wieder von vorn anfangen“, ermuntert mich Igor. Er erklärt mir, dass sich im Grunde alles mit drei Formen darstellen lässt, dem Dreieck, dem Kreis und dem Rechteck/Quadrat. Parallel zeichnet Igor auf einem eigenen Blatt, so kann ich mir anschauen, wie er vorgeht. Ein Kreis für den Kopf, ein Kreis für die Schnauze. Dreiecke für die Ohren, ein Rechteck für die Nase und zwei Kreise für die Augen erstmal flüchtig dahingeworfen. Dann erst kommt die Feinarbeit. Konturen erarbeiten. Wo ist Licht, so ist Schatten? So weit, so gut. Aber wie kommt die Katze jetzt auf die Leinwand?
Wäre Igor anderweitig beschäftigt, könnte mir dabei sicher auch Ute Isenberg helfen. Die Barendorferin kommt bereits seit zehn Jahren dienstags in den Kunstraum-Frank. Im Moment sitzt sie an einem Landschaftsbild, das sie im Urlaub auf der englischen Insel St. Michael‘s Mount fotografiert hat. Ihre Herausforderung: Die lilafarbenen Blüten im Vordergrund so darzustellen, dass dem Betrachter die verschiedenen Dimensionen klar erscheinen. „Auch nach so vielen Jahren stoße ich immer wieder an Grenzen. Wenn ich zu Hause allein vor mich hinmalen würde, würde ich vielleicht aufgeben. Hier hilft mir Igor weiter. Zum Beispiel beim Farbenmischen oder dem Erzeugen von Kontrasten. Für einen Schatten kann ich nicht einfach Schwarz reinmischen. Ich muss mir vorher anschauen, ist der Schatten eher blau oder eher grünlich.“´
Vom Schicksal gezeichnet
Schatten gibt es auch in Igors Lebens, sein Vater wurde bei der Deportation von Deutschland nach Kasachstan in Polen geboren. 2002 kehrt Igor zusammen mit seinen Eltern und seinen zwei Brüdern in die Heimat seiner Vorfahren zurück, in die Lüneburger Heide. Keine leichte Zeit für ihn. Zwar versteht er „Deitsch“, aber die Umgebung, die Mentalität – das alles ist fremd für ihn. Der diplomierte Grafikdesigner arbeitet von 1995 bis 2002 als Restaurateur im Museum der Geschichte des Kosmodrom Bajkonur, dem weltweit ersten und derzeit größten Weltraumbahnhof im kasachischen Bajkonur. 2002 tritt er einen Hausmeisterjob an der Amelinghausener Grundschule an. Der Künstler spricht sich im Ort herum. 2003 zur Hochzeit von Jenny Elvers bestellt der damalige Samtgemeindebürgermeister Helmut Völker als Geschenk ein Porträt bei Igor. Als die Kunstlehrerin der Grundschule vom Pferd fällt und sich ein Bein bricht, avanciert Igor zum pädagogischen Mitarbeiter. 2008 macht er sich selbstständig als freischaffender Künstler. Zunächst in einem gemeinsamen Atelier mit Prof. Dr. Kurt Bader von der Leuphana Universität an der Münze, später in der Kulturbäckerei, wo er sich von 2015 bis 2020 zusätzlich in der Kunstschule Ikarus engagiert.

Ein buntes Leben
Die Farbpalette ist es auch, um die es zuerst geht bei unserem Bild von Janis. Das eines mal klar ist: „Grau gibt es nicht“, behauptet Igor, greift nach meinem Handy, zoomt die Katze heran. Tatsächlich, mein Kater ist gar nicht grau getigert. Das Licht strahlt ihm alle Farben in den Pelz. Braun, Grün, sogar Blau und Gelb sehe ich auf seinem Fell. Faszinierend. Und wie wählen wir die Farben jetzt aus? „Nach künstlerischer Freiheit“, scherzt Igor, „nein, im Ernst, ich denke nicht mehr über Farben, Techniken, nehme ich jetzt den 2H- oder HB-Bleistift nach, sondern nur darüber, wie ich es meinen Schülern vermitteln kann.“ Das läuft bei ihm sehr intuitiv. „Sieh hier, die Nase hat Orange, die Fliesen blaue Schatten, im Auge ist Gelb, Grün.“ Schnell hat er die Farben auf die Palette gekleckst, mit Leinöl gemischt, prompt macht sich wieder der Scherzkeks bemerkbar: „Wir könnten auch Terpentin nehmen, aber dann müsstest Du Dir Gewichte an die Beine binden, um nicht ins Weltall abzuheben.“ Mit dem Pinsel vor der leeren Leinwand fühle ich mich leicht überfordert. Einfach anfangen? An sich hat Igor es nicht so gern, die Konturen mit Bleistift vorzumalen, das Graphitgemisch beeinträchtigt die Farben. Aber ich bin Anfängerin, ich darf das. Obwohl wir gar nicht viel sprechen, entsteht durch Zuschauen, Imitieren, Ausprobieren, Korrigieren nach und nach ein Bild, das wirklich ein bisschen nach Janis aussieht. Die Stunden verfliegen. Es wird acht, Zeit zu gehen. Ich bin natürlich noch nicht annährend fertig, nehme aber einen intensiven Eindruck mit nach Hause und den Wunsch, wiederzukommen.