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Allez, les Thibault

von Gastautor

Von Autorin Carolin George 

Alles auf Anfang: Familie Thibault aus Adendorf wagt den Neustart. Eingepackt wird, was in den Bulli passt. Das Ziel? Die Welt. Als Caroline Thibault am 19. Dezember 2022 aufwachte, aufstand und ihre Bettdecke ordentlicher als sonst zusammenlegte, tat sie das nicht, damit es schön aufgeräumt aussieht im Schlafzimmer, wenn sie wieder nach Hause kommt. Sondern sie legte die Decke so ordentlich zusammen, damit sie in den Bulli passt – zusammen mit Decken, Kissen, Kleidung, Spielsachen und Hausrat ihres Mannes und ihrer drei Kinder.

Start in ein neues Leben

Dieser Morgen war der letzte, an dem Caroline Thibault in ihrem eigenen Schlafzimmer aufwachte. Seit die Familie am 19. Dezember 2022 ihre Tür in Adendorf hinter sich zuzog, hat sie keinen festen Wohnsitz mehr. Das Haus und 90 Prozent der Gegenstände darin: verkauft. Die fünf sind fort.

Aufgewachsen in Himmelpforten bei Stade, kam Caroline Thibault (36) zum Studium nach Lüneburg, zuerst Soziale Arbeit, später Bildungswissenschaften. Ihren Mann Jérémy Thibault (34), Ingenieur, lernte sie in Hamburg kennen – sie mochte Frankreich und Französisch, suchte über eine Facebook-Gruppe ein Sprachtandem. Jérémy arbeitete als Projektmanager für einen Airbus-Zulieferer in Finkenwerder. „Es war ziemlich schnell klar, dass aus uns mehr wird als ein Sprachtandem“, erzählt Caroline, die damals noch Prawitt hieß. Und dann ging vieles tatsächlich ganz schnell.

Foto: nh/tonwert21.de

Beziehung auf der Kippe

Erste gemeinsame Wohnung in Lüneburg, erstes Mal schwanger. Das war im Herbst 2015. Er arbeitete weiter auf dem Airbus-Gelände, sie ging in Elternzeit. Als sie mit dem zweiten Kind in Elternzeit war, kaufte das Paar ein Haus in Adendorf. Renovierten es in Eigenleistung, machten alles so, wie sie es sich vorstellten.

„Es lief wie in einer Bilderbuchfamilie“, sagt Caroline Thibault. „Auf dem Papier war alles cool. Guter Preis, gutes Haus. Guter Job, Familie gesund. Aber dann begann die Talfahrt.“ Jérémy verließ das Haus um 5 Uhr morgens und kam zwölf Stunden später zurück. Sagte salut und musste dann mal kurz noch etwas erledigen. Telefonieren, E-Mails schreiben. „So ging das jeden Abend“, erinnert sich Caroline. „Er hat eigentlich nur gearbeitet, war fast immer am Handy. Bis ich gesagt habe, ob wir nicht wenigstens mit den Kindern zusammen Abendbrot essen können.“

Als Jérémy dann ein Jahr lang mehrere Tage in der Woche nach Dresden musste, bedeutete das für Familie und Beziehung beinahe das Aus. „Ich hatte manchmal das Gefühl, ich müsse mich trennen, damit etwas besser wird. Dabei wollte ich das gar nicht, mich trennen.“

Burnout durch Überarbeitung 

Als Jérémy einmal seinen Koffer im Zug vergaß und dies erst zehn Stunden später bemerkte, als er frische Lebensmittel anstatt in den Kühlschrank in eine Schublade legte und als er der Tochter ein falsches Zäpfchen verabreichte, da sagte Caroline ihm: „Du musst dich krankschreiben lassen.“

Pandemie als Beziehungsretter 

Er tat es, war sechs Wochen zu Hause. Am liebsten würde er kündigen, sagte er damals. Doch der Kredit für das Haus … Er ging also wieder arbeiten. Was aus ihrer Familie geworden wäre ohne die Corona-Pandemie, das weiß Caroline Thibault nicht. Vielleicht hätte sie schon viel früher ihre Bettdecke in den Bulli gelegt. Vielleicht aber auch nicht. Weil die Zeit noch nicht gekommen war für einen Neubeginn.

Die Pflicht zum Homeoffice war womöglich ihre Rettung. Dass Jérémy sich zum ersten Mal richtig an den Aufgaben rund um Kinder und Haushalt beteiligen konnte, tat dem Paar gut. „Auch Jérémy selbst merkte, wie gern er sich mit den Kindern beschäftigt“, erzählt Caroline. Während sie selbst erlebte, wie wenig von ihren Nerven noch übrig war, nachdem sie die Jahre zuvor so vieles rund um Renovierung, Haushalt, Kinder und vermietetem Gästezimmer allein gestemmt hatte. Es fühlte sich für eine Weile wieder besser an, das Leben.

Foto: nh/tonwert21.de
Foto: nh/tonwert21.de

Zurück an den Anfang

Caroline wurde wieder schwanger. Dann endete die Pflicht zum Homeoffice. Jérémy musste wieder jeden Tag nach Finkenwerder. Und schwupps, ging alles wieder los. Wie vorher. Wie die berühmte Reißleine zu ziehen, entscheiden sich die beiden spontan, zwei Monate Elternzeit gemeinsam zu nehmen. Einen Monat davon reiste die fünfköpfige Familie durch Frankreich. Caroline und Jérémy redeten fast jeden Abend. Darüber, was gut läuft in ihrem Leben. Was nicht funktioniert. Was sie zermürbt und was sie fast zerstörte. Caroline hatte zwischendurch eine Ausbildung zur systemischen Coachin und Trainerin in der Erwachsenenbildung gemacht. Sie kannte also Methoden, an das heranzukommen, was ein wenig versteckter liegt als das Offensichtliche.

Uns ist bewusst geworden, dass wir in unserem Leben beruflich fast nie das gemacht haben, was unsere Leidenschaft ist.
Caroline Thibault

Die Entscheidung steht fest

Neu anzufangen, ist ihr außerdem nicht fremd. Schon einmal, Caroline war 29, hatte sie sich aus einem gut bezahlten, sicheren Job an der Leuphana Universität heraus für eine Stelle in einer deutsch-französischen Kita in Lyon beworben, ihre damalige Wohnung aufgelöst und fast alles, was sie besaß, verkauft, verschenkt oder verliehen. Weil sie schon damals die Sehnsucht nach Frankreich spürte, nach einem Leben, das anders sein sollte als jenes, das sie führte.

Nach vier Wochen ohne den Adendorfer Alltag waren Caroline und ihr Mann so weit, dass sie formulieren konnten, wie ihre Zukunft aussehen soll: Sie wollen gleichberechtigt ihre Kinder großziehen. Sie wollen eine Arbeit, bei der sie unabhängig sind von einem Ort. Selbstbestimmt sind. Und sie wollen ihr Haus verkaufen. Das war im Frühling 2022.

Heute wohnen die fünf in einem Häuschen im Küstenstädtchen Lorient, Bretagne. Gemietet für sechs Monate. Aus Adendorf mitgenommen haben sie Kleidung, Kinderfahrräder und Hochstühle, die kleine Lieblingsholzrutsche der Kinder und vier Kisten mit Büchern und Spielsachen.

Mathéo (6) und Tilda Lou (4) besuchen eine École, Élio (fast 2) ist zu Hause. Sechs Monate ein festes Dach über dem Kopf, und danach: Reise mit offenem Ende im Bus mit Zelt. Caroline will als selbstständige Coachin arbeiten. „Ich möchte Menschen helfen, die ebenfalls einen Ausweg aus ihrem aktuellen System suchen.“ Und sie will ein Buch über ihre Reise schreiben. Darin soll es über ihre Erfahrungen mit dem sogenannten Freilernen mit Mathéo gehen und um das Thema Schulpflicht versus Bildungspflicht. Jérémy wird den Weg per Video festhalten, um andere an ihren Erfahrungen teilhaben zu lassen. „Uns ist bewusst geworden, dass wir in unserem Leben beruflich fast nie das gemacht haben, was unsere Leidenschaft ist“, sagt die 36-Jährige. „Im vergangenen Jahr haben wir neue Wege gefunden, die wir gehen können.“

Wie es weitergeht mit ihnen, davon erzählt Caroline auf ihrem Instagram-Kanal: @les_thibault_auf_abwegen. „Man kann aussteigen aus dem, was einem nicht guttut. Auch wenn man Kinder hat“, sagt sie. „Wir wollen zeigen, dass das geht.“

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